Kritik

„Das neue Leben“ am Schauspielhaus Bochum

Christoper Rüping inszeniert Dante am Schauspielhaus Bochum.
Besprochene Vorstellung: 26. November

Foto oben: Jörg Brüggemann / Ostkreuz
Beitrag von: am 03.12.2021

Neun Kreise ineinander, einer kleiner als der andere. Neun Jahre dauert es, bis die Sonne neun Mal die Erdumlaufbahn umkreist. Neun, das Alter, in dem Dante, ein mittelalterlicher Dichter und der Protagonist in Christopher Rüpings „Das neue Leben“ die Liebe seines Lebens gefunden hat – also wortwörtlich, so wirklich, also keine kurze impulsive, sondern so eine, die das gesamte Leben einnimmt und noch weit darüber hinaus existiert. Das klingt rührselig, ist aber tragisch, wenn man das Innenleben des Protagonisten verfolgt. Denn ja, das alles spielt sich im Inneren ab, ungeteilt und heimlich, deswegen aber nicht weniger schwerwiegend. Und Auslöser war lediglich ein Gruß von Beatrice. Ab da nimmt das Unheil seinen Lauf oder wie der Protagonist selbst sagt – „Das neue Leben“.

Das Stück am Schauspielhaus Bochum erzählt die Geschichte eines Jungens, der in den 1280ern seine vollkommene Hingabe in die gleichaltrige Beatrice legt. Richtig, vor knapp 750 Jahren. Wie es sich wahrscheinlich in dieser Epoche gehörte, widmet er ihr Zeit seines Lebens Sonette und macht sie zum Objekt alles Lyrischen. Unglaublich kitschig, wären da nicht die vier Darsteller*innen, die das Innenleben Dantes darstellen, sich ganz ungeniert sowie liebenswürdig in den Konflikt einmischen und die übermächtige Situation selbst nicht immer so ganz zu verstehen scheinen. Die Zuschauenden werden reingesogen, das Saallicht bleibt an, Barrieren zu den Spielenden werden abgebaut. Dantes Gefühlslage katalysiert seine Ichs in musikalische Liebesbekundungen, die sie wie Castingauftritte performen. „Baby One More Time“ von Britney Spears klingt in Klavierbegleitung plötzlich melodramatisch und ausgerechnet Popsängerin Natasha Bedingfields „These are my Words“ scheint die Gesamtsituation ziemlich treffend zu bezeichnen: “Nothing I write is ever good enough / These words are my own / From my heart flow / I love you, I love you, I love you, I love you”.

Dabei sind die Gesangseinlagen nicht peinlich, sondern aufrichtig, manchmal fast schon schüchtern und zaghaft. Beatrice wird zum Zentrum aller Gedichte Dantes, die sie aber selbst nie zu hören bekommt. Dante tut alles, um seine Gefühle für sich zu bewahren – ein Konflikt. „Sag‘s doch, warum lässt du es nicht raus“, ruft ein Inneres in einer Genervtheits-Tirade hinaus. „Dann wird es echt. Dann wird es billig. Ich will nicht, dass es echt wird. Ich will, dass es vollkommen bleibt“, lautet die Antwort eines anderen Ichs und dieser Satz trifft ins Herz. Begehren von weitem, ein zeitloses Phänomen.

Alles kreist um die Liebe. Liebe. Liebe. „Liebe“. Das kann nämlich keine sein, oder? Filme, Serien, die größten Popsongs unserer Zeit propagieren, dass völlige Hingabe und Vergötterung echte Liebe ist. Ein Schrein wird gedanklich um die Person des Begehrens gebaut, bzw. um die Vorstellung dieser Person, angefüttert mit immer neuen Idealen und Was-wäre-Wenns. Beatrices Gruß auf der Straße spielt Dante in Dauerschleife ab. Wie sie lacht, wie sie riecht, wovon sie träumt und wann sie nervt weiß Dante nicht. „Vielleicht brauche ich nicht mehr, als zu wissen, dass es sie gibt“, schließt er ernüchternd. Dass diese regelrechte Obsession toxisch ist, sich nicht gegen Beatrices Wohlergehen wendet (ein Glück), aber dafür gegen Dante selbst auch nach Jahren umso mehr, wird zwischen den Zeilen deutlich. Ich wünsche niemandem so eine „Liebe“, aber für Dante kommt jede Hilfe zu spät. Denn – verdammt, 1280er, das heißt, dass irgendwann die Pest ausbricht. Immer mehr Bekannte und Nachbar:innen bringt die Epidemie nach und nach ums Leben, bis sie schließlich die mittlerweile 24-jährige Beatrice selbst trifft. Ein Wendepunkt.

Dante wird krank, neun Tage lang, liegt im Fiebertraum. Das Licht, das im Publikumssaal bis zu diesem Zeitpunkt an war, erlischt langsam, eine Entfremdung wider Willen. Dafür erhellen nun zig Scheinwerfer die Bühne, Nebel- und Windmaschinen werden angeschmissen, ein imposanter Kran wird aus der Decke ausgefahren, umrundet die neun Kreise aus Dantes altem Leben, laute Musik, goldenes Licht. Ist es die Sonne? Ist es der Tod? Das Fegefeuer? Silhouetten schleichen auf der Bühne umher, leichte Stoffe tanzen unter tausend Lumen Licht. Fühlte sich das Stück zuvor eher wie eine offene Probe an, wird es nun zu einem einzigen Sehspektakel, dessen Wucht einen auch ohne Worte sprachlos zurücklässt.

Ein Stück mit erzählerischen und ästhetischen Wendungen, mit mehr Pop-Musik als etwas mit „Dante“ in der Programmbeschreibung zunächst vermuten lässt, mit großer Stärke im häufigen Schlagabtausch der Spielenden und noch größerer in den sanften Momenten, in denen sich die Spieler:innen fast unsichtbar berühren und nahekommen, still. Ein Stück, dessen „Liebes“-Geschichte für mich an vielen Stellen aneckt.

Und da, wenige Minuten vor dem Ende, erscheint sie ihm in aller Stille – Beatrice und die beiden stehen sich gegenüber, von Angesicht zu Angesicht nach zwei Stunden und 24 Jahren. Dante schwadroniert zunächst herum, kriegt es aber schließlich wenigstens im Paradies hin, auszusprechen, was er fühlt. Beatrice, ein Engel in Weiß, gealtert, versteht den Aufruhr nicht, reagiert frech, mit Witz, mit Leichtigkeit. Dante hat also eine zweite Chance erhalten, keine Ahnung, ob alle Lebenden so viel Glück haben, ihren liebsten Mitmenschen zu sagen, was sie fühlen.

Zurück im Zug schicke ich einer Freundin also eine Textnachricht. „ICH LIEBE DICH“. Ein paar Minuten später antwortet sie. „Das weiß ich doch.“ Zum Glück.