Sie sei ein „Bewegungsmensch“, sagt Elisabeth Hofmann, genannt Elisa, über sich selbst beim Gespräch nach einer Vorstellung von Hieronymus im FWT Köln, was sofort als treffendste Beschreibung ihrer Rolle bei pulk fiktion einleuchtet. 2016 ist sie zur Kölner Gruppe dazu gestoßen, die bereits seit 2007 in wechselnden Konstellationen rund um Gründerin Hannah Biedermann Kinder- und Jugendtheaterproduktionen auf freien und Stadttheaterbühnen realisiert. ‚Choreografin‘ wäre als Bezeichnung für das, was Elisa tut, wenn sie mit ihren beiden menschlichen Spielpartner:innen Amelie Barth und Marouf Alhassan – die dinglichen Mitspieler:innen mal außen vor gelassen – auf der Bühne steht und das gemeinsam entwickelte Stück zum Besten gibt, zu eng gefasst. Es wird da keine Choreografie aufgeführt, sondern durch Bewegung kommuniziert. Bewegungsmenschen unterhalten sich mithilfe ihrer Körper, animierte Objekte (ertüftelt von Sebastian Schlemminger) schalten sich ein, sind mehr als bloße Requisiten, Klänge und Geräusche (komponiert von Conni Trieder) dienen nicht nur der Untermalung oder Darstellung von etwas, sondern treten plastisch hervor (das perlende Blubbern von Wasser wie das Gefühl von Knisterschokolade auf der Zunge). Zusammen ergibt das kein Abbild, sondern ein lebendiges Gebilde, in dem alle Elemente in ihrer Eigenartigkeit für sich stehen und sich zugleich nahtlos verzahnen; es entstehen greifbare Versionen der Kreaturen, die die phantastischen und unheimlichen Welten von Hieronymus Bosch bevölkern, denen sich Thé Tjong-Khings Kinderbuch, das hier als Stückvorlage dient, widmet. Dieses Theater macht Staunen, nicht indem es Illusionen schafft und so tut, als ob. Im Gegenteil, alles liegt offen dar: Das drahtige Innere eines Roboters verschwindet nicht hinter einer glatten Oberfläche und die Videoprojektionen Norman Groteguts entstammen keiner winzigen Blackbox, deren Funktionsweise im Dunkeln bleibt. Gerade indem gezeigt wird, wie die Dinge funktionieren, tritt das Wundersame an ihnen hervor.
Diese Ästhetik spiegelt sich, wie Elisa berichtet, auch in der Zusammenarbeit wider. Wenn sich die Gruppe treffe, um über neue Stücke nachzudenken, stünden zum einen konkrete Themen und Fragen und zum anderen die Interessen und Fähigkeiten der Gruppenmitglieder im Vordergrund. Ideen und Anregungen würden ausgetauscht, und zwar praktisch mit den Mitteln, durch die die jeweiligen Mitglieder ihre Welt zu begreifen suchen. Bewegungsmensch trifft Medienmensch trifft Erzählmensch trifft Klangmensch und alles fragt sich: ‚Wie wollen wir’s machen? Wer hat Lust, sich mit der Sache auseinanderzusetzen?‘ So finde sich schließlich nach einer werkstattartigen Konzeptionsphase ein Team, das sich dann daran macht, den Themen und Fragen Gestalt zu verleihen. Diese drehen sich meist um soziale Gerechtigkeit und politisches Engagement, aber auch um Persönliches wie beispielsweise den Umgang mit Ängsten und Verlusten. Ob es sich bei dem Ergebnis dann um Tanz, Performance, Musik- oder Objekttheater handelt, das speziell für Kinder und Jugendliche produziert wurde, scheint in dieser Schilderung des Arbeitsprozesses von pulk fiktion zunächst einmal keine Rolle zu spielen.
Angesichts der Vielfalt an Themen und der Verschiedenartigkeit der ästhetischen Herangehensweisen, stellt sich beim Versuch, die Produktionen von pulk fiktion im zu Kategorisierungen neigenden Kulturbetrieb zu verorten, die Frage: Was ist das eigentlich für ein Theater? Was macht es aus?
Auf seiner Website beschreibt sich das Kollektiv zunächst einmal schlicht als „Gruppe, die sich dem Kinder- und Jugendtheater verschrieben hat“, mit dem Anspruch jedoch, „ein zeitgenössisches Theater für alle“ zu machen. Die oben genannten Labels tauchen nicht auf und auch die Zielgruppe ist denkbar weit gefasst. Beides lässt auf die Haltung schließen, mit der die Künstler:innen ihrer Arbeit nachgehen.
Unter Theatermacher:innen, Pädagog:innen, Kulturpolitiker:innen, usw. scheinen zwei Auffassungen vorzuherrschen, was die Begeisterungsfähigkeit junger Menschen, vor allem von Jugendlichen, für das Theater angeht: Einerseits wird häufig beklagt, letztere seien angesichts von Netflix, TikTok &Co. gar nicht mehr in der Lage, sich auf das (vermeintlich) analoge Spiel des Theaters und seine langen Erzählstrukturen einzulassen, ihnen mangele es schlichtweg an Konzentrationsfähigkeit; andererseits wird das Theater als Medium für überholt erklärt, gepaart mit Forderungen, sich den (vermeintlich neuen) digitalen Formaten anzugleichen, um attraktiver für ein junges Publikum zu werden. Die Wahrheit – im Sinne einer treffenden Analyse der Gegenwart – liegt, wie so oft, dazwischen.
Das Theater ist nicht das analoge Gegenteil einer digitalen Welt, sondern ein Teil von ihr. Genauso wie Kinder und Jugendliche gehen auch die Theatermacher:innen mit dieser Tatsache um, nur eben auf andere Weise. Was sich unterscheidet, sind nicht die Welten, in denen Kinder und Erwachsene leben, sondern wie sie sich darin zurecht finden. Kindern und Jugendlichen Desinteresse und mangelnde Konzentrationsfähigkeit im Umgang mit Theater zu unterstellen, die durch die richtige Vermittlung von Inhalten überwunden und beseitigt werden müssen, ist dabei keine sonderlich einladende oder wertschätzende Haltung. Erst einmal davon auszugehen, dass sie kluge und kompetente Mitbewohner:innen der gemeinsamen Welt sind, die gekonnt durch Teile davon navigieren, die anderen Generationen womöglich weniger vertraut sind, hingegen schon. Nach den Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen zu fragen und von den seinigen und denen anderer zu berichten – das ist es, was die Grundhaltung von pulk fiktion auszeichnet. Sie sind nicht der absurden Vorstellung verfallen, einem jungen Publikum etwas über seine Wirklichkeit erzählen zu können, das es nicht selbst längst wüsste; diese Art von Gängelei eines moralisch-aufklärerischen Erklärtheaters ist out. Es geht darum, Fragen an jene Wirklichkeit zu stellen und dadurch ein Publikum anzusprechen, das diese teilt, um mögliche Antworten zu ergründen, ohne sie im Vorhinein parat zu haben. Ansprechen und zuhören, statt beurteilen und erklären. Nicht aktuelle und kritische Inhalte vermitteln, sondern für Themen interessieren. Das ist die Basis einer kritischen Auseinandersetzung, die dann auf dem Theater erfolgt. Und so lässt sich auch am ehesten dem Anspruch gerecht werden, ein intergenerationales Theater zu machen, in dem man zusammenkommt, um gemeinsam zu denken – und das möglichst ohne Geländer.
Wie zum Beispiel in dem im September 2020 uraufgeführten Stück, in dem sich Hannah Biedermann und Peter Behle als Performerin-Techniker-Duo mit der politischen Theorie Hannah Ahrendts auseinandersetzen. Denken ohne Geländer – Hannah Ahrendt im Selbstversuch ist die Arbeit, empfohlen für Jugendliche ab 13 Jahren und Erwachsene, betitelt, bei der Eva von Schweinitz Regie führte. Und es wird schnell klar, dass es sich beim Denken keineswegs um eine rein private und harmlose Angelegenheit handelt, sondern um eine durchaus riskante Tätigkeit. Wagt man es nämlich, nach den Grenzen des eigenen Denkens zu fragen und erst einmal nicht zu wissen, wie die Dinge funktionieren; traut man sich dann noch, dies öffentlich zu tun und mit anderen Antworten auf die entstehenden Fragen zu suchen, begibt man sich auf unbeschrittene Pfade. Das aber bringt nicht nur den Verlust von Sicherheit mit sich – des Geländers, das zugleich Halt gibt und einschränkt –, sondern die Freiheit, neue Räume im Alltäglichen zu erkunden. Öffentlich denken heißt, Risiko in Kauf und dadurch Verantwortung zu übernehmen. Für das eigene Denken und die praktischen Folgen, die es hat und die immer auch andere betreffen. Denken ohne Geländer heißt vor allem mitdenken, sich fragend engagieren in die Auseinandersetzung darüber, wie die gemeinsame Welt beschaffen sein soll. Nichts anderes ist politisches Handeln. Und das können Kinder und Jugendliche genauso gut wie Erwachsene.
Das Beispiel macht nochmals den Kern des – mit zahlreichen Festivaleinladungen und Preisen (2017 u.a. mit dem Deutschen Theaterpreis DER FAUST) geehrten – Theaters der Gruppe deutlich: Wenn sich der bunte Haufen (pulk) trifft, um Stücke zu erschaffen (fiktion) und öffentlich aufzuführen, dann wird klar, dass Fiktion nicht das Gegenteil von Wahrheit ist, wie es die Fake News-Debatten, in denen sich allzu häufig um die Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen gesorgt wird, zuweilen glauben machen – ein Thema im Übrigen, dem sich die Gruppe in Trollwut – Ein Diskursmusical, einer Produktion aus dem Jahr 2018, widmet. Fiktion ist eine Art, gemeinsam die Wirklichkeit zu denken, und das heißt: sich zu engagieren.
Anna Raisich (30) ist Theaterwissenschaftlerin und beschäftigt sich in verschiedener Form mit dem Theater. Derzeit unterrichtet sie u. a. an der LMU München und lebt in Köln.