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Neue Ideen im Theater

Das Import Export Kollektiv am Schauspiel Köln feierte Ende Oktober Premiere seiner neuen Produktion „Jugend ohne Gott“. Vor der Premiere sprach unser Autor Marvin Wittiber mit dem Künstlerischen Leiter und Regisseur Bassam Ghazi und den beiden Ensemblemitgliedern Dorota und Sara über die besondere Arbeit im Kollektiv, das Proben in Zeiten der Corona-Pandemie und den Wunsch nach einer Revolution des Stadttheaters.

Foto oben: Lukas Marvin Thum
Beitrag von: am 12.11.2020

Marvin Wittiber: Am kommenden Freitag feiert Ihr mit eurer neuen Produktion „Jugend ohne Gott“ Premiere im Depot 2. Ihr steckt jetzt schon mitten in den Endproben, seid Ihr schon aufgeregt?

Bassam Ghazi: Die Anspannung ist uns doch sicher anzumerken (lacht). Seit dieser Woche sind wir jetzt endlich in den Endproben auf der Bühne. Eigentlich war der Plan schon eine Woche früher zu starten, aber weil wir einen Corona-Positiv-Fall im Team hatten, mussten wir alle für eine Woche in Quarantäne und dann abwarten, bis die Testergebnisse kamen, ehe wir wieder proben durften. Deswegen hat sich das ein bisschen hingezogen. Die Realität, die gerade dort draußen stattfindet, hat sich jetzt auch bei uns hier drinnen abgespielt, wodurch wir in der Konsequenz ganze vier Probentage auf der Bühne verloren haben.

Sara Malang: Dadurch, dass wir jetzt alle eine Woche ungewollt frei hatten, konnten wir nochmal unsere Akkus aufladen und noch mehr Ehrgeiz forcieren, sodass wir jetzt 100 Prozent auf unserer Bühne geben wollen. Wir sind jetzt voll da bei den Proben – das ist wirklich bei jedem und jeder zu spüren.

Dorota Lewandowska: Seit dem Restart merkt man auf jeden Fall, dass der Druck steigt. Die Premiere ist bereits am Freitag und wir haben das Stück noch nicht einmal ganz durchgestellt. Aber ich habe volles Vertrauen, dass das funktionieren wird. Die Freude, jetzt endlich auf der Bühne stehen zu können, ist groß. Obwohl es nach wie vor sehr komisch ist, nicht mehr die Berührungen und diese Nähe zueinander zu haben, die uns eigentlich als Kollektiv immer ausgezeichnet haben.

Marvin Wittiber: Jetzt, wo du es schon ansprichst: Wie ist für euch das Proben in Zeiten von Abstands- und Hygieneregeln?

Dorota Lewandowska: Das ist ein Punkt, der unheimlich schwer zu koordinieren ist, wenn zwölf Menschen gleichzeitig auf der Bühne stehen und man jederzeit aufpassen muss, sich nicht zu kreuzen, sich nicht zu nahe zu kommen. Das ist eine große Umstellung gewesen.

Marvin Wittiber: Und für dich als Regisseur?

Bassam Ghazi: Während, mit und trotz Corona zu inszenieren, ist schon eine Herausforderung für sich. Inzwischen haben wir es aber alle einfach so angenommen, dass das die neue Realität ist. Am Anfang war das noch eine enorme Bremse und in mir kam immer wieder dieses Gefühl hoch „Abfuck. Wie soll man denn bitte so inszenieren? Ist doch alles nur noch wahnsinnig statisch!“. Aber jetzt entdecken wir in dieser enormen Begrenzung doch auch eine ganz eigene Freiheit.

Bassam Ghazi im Gespräch. Foto: Lukas Marvin Thum

Marvin Wittiber: Was erwartet mich, wenn nächsten Freitagabend das Saallicht erlischt?

Sara Malang: Dich erwartet eine Schulklasse und ihr Lehrer.

Dorota Lewandowska: Und du wirst einen Kampf der Figuren untereinander, aber auch mit sich selbst erleben.

Marvin Wittiber: Ich bin schon sehr gespannt. Bassam, warum hast du dich für dieses Stück und dabei insbesondere die Fassung von Tina Müller und dem Maxim Gorki Theater entschieden?

Bassam Ghazi: Die Romanvorlage „Jugend ohne Gott“ von Ödön von Horváth zu inszenieren, hätte mich persönlich niemals interessiert, weil sie den Fokus auf der Lehrerfigur hat. Die Fassung von Tina Müller allerdings geht sehr stark auf die Perspektive der Schüler*innen ein und bringt die Sprache des Autors und der Jugend von 1937 zusammen. Dabei stellt sie wichtige Fragen heraus, ohne dabei die Moralkeule zu schwingen. Das ist ein Punkt, der an dem Stück so reizvoll ist. Es ist alles miteinander verwoben. Man wird an diesem Abend sicher auch ein bisschen Zeit brauchen, um in die Handlung reinzukommen und nachzuvollziehen, wer wer ist – gerade durch die Anonymität der Figuren, die als Namen nur Buchstaben bekommen haben. Im Zentrum steht die Frage, wer der oder die Mörder*in ist. Allerdings nicht so erzählt wie in dem Roman, sondern viel mehr als Kriminalstory.

Marvin Wittiber: Ich habe deine letzten Arbeiten mit dem Kollektiv hier in Köln gesehen und beobachtet, dass du stets mit choreografischen Elementen in deinen Inszenierungen arbeitest. Was interessiert dich daran?

Bassam Ghazi: Das, was mich am meisten daran reizt, ist gerade mit jungen Menschen den körperlichen Ausdruck noch stärker in Bildern zu verpacken. Ohne Choreografin wäre ich in meiner Arbeit viel eindimensionaler. Mein Impuls geht eher dahin die klassischen Sehgewohnheiten, die es an einem Stadttheater nun mal so gibt, zu durchbrechen, nach körperlichen Bildern zu suchen und insgesamt mehr in Richtung Tanztheater zu gehen. Ich finde das für mich selbst eine enorme Befreiung in der Zusammenarbeit. Mir ist bewusst, dass das nicht immer zu 100 Prozent aufgeht – das ist ja auch etwas, das sich erstmal mit der Sprache, der Musik und den Bildern zusammengrooven muss, die man sucht und dann hoffentlich auch findet. Das ist mir ein großes Anliegen und ich merke auch, wie gut und empowernd das auch innerhalb der Probenzeit ist: einfach nochmal den Körper anders wahrzunehmen.

Dorota Lewandowska und Sara Malang im Gespräch. Foto: Lukas Marvin Thum

Marvin Wittiber: Was zeichnet eine Produktion von Bassam noch aus?

Dorota Lewandowska: Definitiv die Art und Weise wie zusammengearbeitet wird: Jede*r wird gehört und auf jede*n wird Wert gelegt. Bassam schafft in seinen Produktionen eine Atmosphäre, in der sich alle wohlfühlen und aus sich rausgehen können. Es macht definitiv immer noch so viel Spaß wie am Anfang.

Sara Malang: Und wenn wir eigene Ideen haben, können wir diese auch jederzeit miteinbringen. Jede*r ist ein Teil des großen Ganzen und man fühlt sich nie außenstehend.

Bassam Ghazi: Ich selber sehe mich als Künstlerischer Leiter gar nicht so sehr im Mittelpunkt des Ganzen und finde das Label „Regie: Bassam Ghazi“ immer noch etwas befremdlich, weil mein Verständnis von Regie viel stärker vom kollektiven Regieführen ausgeht und ich meine Aufgabe eher darin sehe, in den letzten Zügen der Proben das Erarbeitete zu verdichten und die finalen Entscheidungen zu treffen. Das gemeinsame Suchen nach Bildern kreiert die Atmosphäre, die die beiden gerade beschrieben haben und die uns auch im Laufe der Probenzeit immer wieder von außen zurückgespiegelt wurde. Die Mitarbeitenden aus den einzelnen Abteilungen und Gewerken kamen zu Beginn dieser Produktion vermehrt auf mich zu und hinterlegten nachdrücklich ihr Interesse, dass sie unbedingt wieder mit uns arbeiten möchten, weil man in den Proben einfach spürt, dass stets eine große Wertschätzung mit dabei ist. Die bringen wir mit, weil wir uns bewusst sind, dass es ein sehr besonderes Privileg ist, dass wir hier spielen dürfen. Das ist dieser Spirit, wie wir arbeiten, der in unseren Proben immer mitschwingt.

Marvin Wittiber: Gibt es ein künstlerisches Ziel, das du in deinen Produktionen verfolgst?

Bassam Ghazi: Das gemeinsame Entdecken steht für mich immer im Vordergrund. Ich glaube fest an das gemeinsame Entwickeln und künstlerische Gestalten. Das ist der Grund, warum ich gerne Theater mit Menschen mache.

Marvin Wittiber: Dass du junge Menschen nachhaltig für das Theater begeistern kannst, zeigt sich auch daran, dass drei ehemalige Mitglieder des Kollektivs heute an staatlichen Hochschulen Schauspiel studieren. Habt Ihr beiden auch Ambitionen diesen künstlerischen Berufsweg einzuschlagen?

Dorota Lewandowska: Ich habe mal eine Zeitlang ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, aber mittlerweile bin ich auch einfach zu alt. Die Arbeit mit Bassam reicht mir mittlerweile. Zwischenzeitlich habe ich zusätzlich noch Statisterie in anderen Produktionen hier gemacht und habe so hautnah miterleben können, wie das System Theater wirklich funktioniert. Und das hat mir persönlich absolut nicht gefallen: diese Hierarchien, dieses ganz enge und komische. Da ist es mir viel lieber mit Bassam zu arbeiten, der das starre System dann öffnet, als mich in ein System zu fügen, in dem ich mich überhaupt nicht wohlfühlen würde.

Sara Malang: Bevor ich ans Schauspiel Köln gekommen bin, war ich wahnsinnig interessiert am Schauspiel. Seitdem ich jetzt hier aber mit dabei bin, habe ich eine genaue Vorstellung davon bekommen, wie der ganze Apparat funktioniert und dabei für mich festgestellt, dass das nur etwas hobbymäßiges für mich ist und ich darin nicht meine berufliche Zukunft sehe. Ich will nur hier mit dabei sein und wenn die Zeit irgendwann endet, möchte ich auch gar nichts anderes mehr in diesem Bereich machen.

Marvin Wittiber: Das überrascht mich jetzt doch sehr. Ich habe mit einer völlig anderen Reaktion gerechnet. In Düsseldorf habe ich die Erfahrung gemacht, dass die meisten Spieler*innen der Jugendproduktionen der Bürgerbühne des Düsseldorfer Schauspielhauses nach ihrer Produktion unbedingt Schauspieler*in werden wollen. Den exklusiven Einblick an einem Stadttheater also zu nutzen, um zu so einer Systemkritik zu gelangen, finde ich extrem spannend.

Bassam Ghazi: Wenn jemand aus dem Kollektiv solche Ambitionen entwickelt, ist das erste, was ich sage: Schau dir die Realität an und sprich mit den Schauspieler*innen hier am Haus und dann frag dich ernsthaft, ob du dir das wirklich antun möchtest. Wenn es das größte Glück für dich ist, was du damit verfolgen willst, dann ist das harte Arbeit.

Marvin Wittiber: Euer Publikum ist ein viel diverseres, jüngeres als in anderen Repertoirevorstellungen am Schauspiel Köln. Wie reagieren eure Freunde und Familie darauf, wenn Ihr sie zu euren Produktionen einladet?

Dorota Lewandowska: Wenn ich frage, ob jemand Lust hat vorbeizukommen, kommt als aller erstes immer: „Aber was muss ich denn anziehen? Darf ich denn mit Jeans oder Jogginghose kommen?“. Ich persönlich finde es sehr schade, dass junge Menschen und insbesondere meine Freunde Theater immer noch für einen Ort halten, an dem nur ältere Menschen in feinster Abendgarderobe unterwegs sind. Da finde ich es super, dass wir das im Kollektiv brechen und sagen: „Hey, komm einfach wie du willst und wie du dich wohlfühlst! Du bist ja der, der im dunklen Zuschauerraum sitzt und uns auf der Bühne beobachtet und nicht wir, die dich verurteilen, nur weil du mit zerrissener Jeans gekommen bist.“. Ich habe mir diesen Freiraum immer genommen und finde es super, wenn sich andere junge Leute das Theater so erobern, dass sie sich rundum wohlfühlen.

Sara Malang: Geht mir genauso! Als meine Klassenkamerad*innen zum ersten Mal mitbekommen haben, dass ich hier mitmache, hieß es erstmal so: „Ach Theater – das ist doch voll altmodisch und langweilig!“. Aber sobald die ersten dann wirklich mal hier waren, waren sie fasziniert. Mir hat es gefallen, dass ich ihre Meinung ändern konnte, ohne etwas sagen zu müssen. Sie sind von sich aus gekommen und haben daraufhin ihr Vorurteil vom Theater überprüfen können. Das hat mich sehr gefreut. Und jetzt – vor der Premiere unseres neuen Stücks – hat sich das an meiner Schule soweit herumgesprochen, dass sogar noch mehr vorbeikommen wollen.

Sara Malang im Gespräch. Foto: Lukas Marvin Thum

Das Import Export Kollektiv ist das junge Ensemble am Schauspiel Köln. Das Kollektiv vereint 28 junge Menschen im Alter von 14 bis 34 Jahren aus sehr vielfältigen Lebenswelten und wurde bereits 2008 unter der künstlerischen Leitung von Bassam Ghazi als freies Jugendtheaterensemble in Köln-Mülheim gegründet. Seit 2015 gehört das junge Ensemble nun schon zum Schauspiel Köln und entwickelt in jeder Spielzeit eine Produktion unter professionellen Bedingungen.

Bassam Ghazi (46) ist Theaterpädagoge, Regisseur und Künstlerischer Leiter des Import Export Kollektiv am Schauspiel Köln. Außerdem arbeitet er als Diversitätstrainer und bietet Fortbildungen zu den Themen Diversität, Inklusion und Rassismus für Bildungs- und Kulturinstitutionen und Unternehmen an.

Dorota Lewandowska (25) studiert Grundschullehramt und wurde mit 11 Jahren Mitglied des Import Export Theater in Köln-Mülheim. Seit 2015 ist sie Ensemblemitglied des Import Export Kollektiv am Schauspiel Köln.

Sara Malang (17) ist Schülerin und seit 2018 Ensemblemitglied des Import Export Kollektiv. Ihre erste Produktion war „Concord Floral“, das am 16. November 2018 Deutsche Erstaufführung am Schauspiel Köln feierte.

Marvins Kritik zu „Jugend ohne Gott“ findet ihr hier.