Diesseits der Diskursmaschine
„Erkenne dich selbst“, so stand es nicht nur über dem Apollo-Tempel im altgriechischen Delphi, sondern auch in Schulklo-Manier eingeritzt im Fliesenkeller-Bühnenbild, das Lan Anh Pham für die Inszenierung von „Verbundensein“ am Jungen Schauspielhaus Bochum. Ein Raum irgendwo zwischen Lost Space, Backstagebereich und öffentlicher Toilette. Ganz oben, hinter weißen Flattervorhängen stehen Mikrofone, hier ist die Bühne, dahinter ein fiktives Publikum, so dass alles zwitterartig gleichzeitig Bühne und Hinterbühne ist.
Der weise Spruch aus Delphi ist so etwas wie ein roter Faden oder besser die Grundidee, die sich durch Kae Tempest gleichnamigen Essay zieht und hier auf der Bühne des Theaterreviers (und im Livestream) gelandet ist. Die Musiker:in und Poet:in schreibt darin – im Corona-Lockdown 2020 zur Untätigkeit verdammt über ihre Erfahrungen und Nicht-Erfahrungen, über die anderen Menschen und sich selbst sowie natürlich das komplizierte Verhältnis zueinander und reflektiert über die eigenen und fremden Konsumbedingungen und -verhalten und was das über die Identität aussagt. Dabei stellt der Abend sie in die Tradition des Psychoanalytikers C.G. Jung, der mit seinem roten Buch eine schonungslosen selbstanalytische Arbeit vorgenommen hat, zugleich aber auch nah am Mystizismus operiert. Kurz: „Verbundensein“ ist ein Abend über das künstlerische Ich und die Gesellschaft im ersten Viertel des 21. Jahrhundert. Nicht immer kohärent, aber dafür halbwegs authentisch.
In Bochum durfte sich nun der aktuelle Jahrgang der Folkwang-Schauspielschule an diesem Stoff austoben. Vier junge Schauspielerinnen und fünf Schauspieler konfrontieren sich in der Regie von Robert Lehninger mit dem Text der Enddreißigerin aus London. Das Spannungsfeld ist dabei offensichtlich: Was kann die nachfolgende Künstlergeneration mit den Anschauungen der Vorgänger überhaupt anfangen? Sie sie Richtschnur, Leuchtturm oder werden die Zwischenbilanzen, die hier gezogen werden rundherum abgelehnt?
Letzteres sicher nicht, vielmehr machen sich die Performer:innen in ihren bunten Kostümen mit den großen Farbflächen von Lasha Iashvili den Text sehr zu eigen und reichern ihn an mit eigenen Ideen. Gespielt wird dabei meist direkt nach vorne, vor allem in die Kamera, in den Stream, der hier primärer Ansprechpartner ist. Meist in routinierter, leichter Unterspannung werden die Merksätze in den Äther geschleudert, jede Blickrichtung und Kopfbewegung genau choreografiert, jedes Tableau genau gesetzt. Sie spielen sich die Sätze wie Bälle wie bei einem Ping-Pong-Spiel zu und Rhythmus und Tempo passen perfekt. Dazu gibt es Sätze aus Granit: „Verstößt du nicht jeden Tag gegen deine eigenen Moralvorstellungen?“, „Ich gehöre der Zeit, nicht der Tiefe“ oder „Was bringt es mir, wenn ich meine eigene Gesellschaft nicht ertrage?“
Es ist diese Art von Selbstzweifel, die immer wieder durchscheint, dies Gefühl, nicht zu reichen, das Gefühl Ausgestoßener einer Gesellschaft zu sein (oder sich selbst auszustoßen) und doch zugleich auf paradoxe Weise von der Anerkennung dieses Außens jenseits der Bühne abhängig zu sein. All die Fragen, die gerade Berufsanfänger:innen im Theater sich stellen dürften, dürfen sie hier vortragen und dabei zugleich maximal authentisch sein und zugleich hinter der Maske der Worten der Autor:in verschwinden. Dies machen sie mit Bravour und spielen auch über die Ungenauigkeiten der Wortpartitur hinweg.
Es ist ein wenig wie bei einem Abend von René Pollesch, wo der Strom des Diskurses alles Denken im Sprechen mit davon reißt. Bei aller Routine können die jungen Akteure und die Regie dem auch wenig entgegen stellen und wirken bisweilen wie funktionierende Sprechmaschinen, zumal die Inszenierung Ausschläge nach oben oder unten, also emotionale Achterbahnfahrten jenseits der intellektuellen Pop-Oberfläche vermeidet. Nur hier und da gibt es Ideen, die das Potential des jungen Ensembles aufscheinen lassen, wenn mit Kreide über die schiefe Rampe gerutscht wird oder mit Loop-Maschine und eigener Stimme ein Soundteppich gewoben wird. Statt also die jungen Talente von der Leine zu lassen, gibt es hier und da kleine szenische Witze theatraler Selbstreflektion, wenn die Bühne sich beschwert, dass sie zu schlecht behandelt wird. So zeigt der Abend, dass diese schauspielenden Performer:innen (oder performenden Schauspieler:innen) mit allen Wassern postdramatischen Theaters gewaschen sind, zeigt aber nur eine begrenzte Seite der Potentiale, die sie hier und da jenseits der Diskursmaschine aufblitzen lassen. Die Suche nach künstlerischer Selbst-Identität werden die neun allerdings mit diesem Abend sicher nicht abschließen. Sich selbst zu erkennen, bleibt ein lebenslanger Prozess.
https://www.schauspielhausbochum.de/de/junges-schauspielhaus/stuecke/8029/verbundensein
Torben Ibs, geboren 1979, ist Journalist, Theaterwissenschaftler und Dramaturg. Er lebt und arbeitet in Leipzig.