In den Fängen von TikTok
Es war ein Fehler. Ein großer Fehler. 2020 im ersten Lockdown lade ich mir TikTok herunter. Der Algorithmus verbringt ein paar Stunden mit mir, in denen wir noch ein wenig fremdeln, aber dann ist es passiert: Er kennt mich. Das Prinzip Bild- und Videomaterial aus Serien, Filmen und anderen sozialen Medien mit eigenen Audios und kurzen vermeintlich authentischen Statements zu überlagern, packt mich irgendwie tief im Innern. Ernsthafte politische Auseinandersetzungen, verpeilte Germanys Next Topmodel compilations, Clips von weißen Menschen, die sich rassistisch verhalten, Parodien auf meine aktuelle Netflix-Top-Ten. Alles prasselt aufeinander bei TikTok und die Gegensätze, die in einem selbst manchmal klaffen, erscheinen plötzlich gar nicht mehr so weit voneinander entfernt. Ich verbringe viel Zeit damit, zu viel.
Come Fly with us
Eines Tages stoße ich auf einen Clip, in dem ein Instagram-Model darüber berichtet, wie sie von der Regierung der Vereinigten Arabischen Emirate angeschrieben wurde. Sie sollte nach Dubai fliegen, und für ein paar Wochen dort leben, um dort auf Kosten des herrschenden Regimes Content zu produzieren, der die Stadt und den dortigen Lifestyle besonders positiv darstellt. Diese Geschichte macht mich stutzig, denn tatsächlich gibt es in dieser Zeit immer mehr Influencer*innen die dorthin verreisen, oder auswandern, ich habe mir aber vorher nicht vorstellen können, dass das eine koordinierte Aktion ist. Ich selbst habe ein merkwürdiges Verhältnis zu der Stadt; in der sechsten Klasse, hatte ich mal bei einem Preisausschreiben eine Fünf-Tage-Reise nach Dubai gewonnen, an die ich mich auch nur noch sehr schlecht erinnern kann, weil sie im Großen und Ganzen von irgendeiner pubertären Krise überschattet wurde. Ich glaube, ich hatte mich mit meiner Mutter darüber gestritten, ob ich meinen neuen Nintendo-DS mitnehmen durfte oder nicht. Alles was ich über diese Reise noch wusste, war, dass ich das Gefühl hatte, nie aus der Flughafenhalle wegzukommen, dass der ganze Ort, eine einzige große Flughafenhalle inklusive Mall war. Ein paar Jahre später fand ich dann heraus, dass einer meiner Onkel als Gastarbeiter in Dubai an der Konstruktion von Hochhäusern tätig war, ich hörte darüber nie etwas Negatives und für bengalische Verhältnisse (die Familie meines Vaters kommt aus Bangladesch), war das dort verdiente Geld wohl auch ausreichend. Als 2020 allerdings wegen der Pandemie keine Arbeitsaufträge mehr reinkamen, war mein Onkel dort für ein paar Monate ohne Sozialhilfe, ohne Rücklagen und ohne richtige Unterkunft gefangen, bis ihm schließlich die indische Regierung half auszufliegen. Während also das Elend in der Bevölkerung, die hauptsächlich aus gastarbeitenden Nicht-Staatsbürgern bestand 2020 zunahm, lockten die Emirate westliche Influencer*innen mit steuerfreiem Luxus.
Gelandet in der Wüste
Mit dieser nur auf den ersten Blick widersprüchlichen Situation wollte ich mich in meiner neuen Produktion am Münchener Volkstheater auseinandersetzen. In Fata Morgana erzählen mein Team, die Spieler*innen und ich die Geschichte von zwei Influencer*innen, die von einer Firma nach Dubai eingeladen werden, um dort in einem Wettbewerb zum Werbegesicht für ein neues atemberaubendes Produkt gekürt zu werden. Die Angestellten der Firma stehen repräsentativ für die Gastarbeiter*innen, schnell aber wird klar, dass hier auch die Influencer*innen ausgebeutet werden. Die Abhängigkeitsverhältnisse werden auf den Kopf gestellt. Orientalischer Zauber, Flaschengeister, Flughafenhallen, zusammengesteckte Dattelpalmen, das alles kann viel Spaß beim gemeinsamen Erarbeiten und Spielen machen, wichtig war uns dabei nur immer, egal ob in der Konzeption des Bühnenbildes, beim Schreiben des Textes oder dem gemeinsamen Proben, dass wir mit den ganzen Klischées in erster Linie unseren eigenen europäischen Blick auf den sogenannten Orient hinterfragen und uns mit dem oftmals aufkeimenden Gefühl moralischer Überlegenheit kritisch auseinandersetzen.
Die Proben
Zu Anfang der Proben mit den Spieler*innen war es mir sehr wichtig, dass wir uns eine gemeinsame inhaltliche Grundlage schaffen, dass hieß Dokus über die Situation in den Emiraten schauen, aber auch gemeinsamer Austausch von TikToks und Memes und der Versuch diese in den Bühnenraum zu übersetzen. Außerdem haben wir zu Anfang der Probenzeit Werbespots für die fiktive Marke Morgana gedreht, mit Kameramann und einem kleinen Studio-Set-Up, so konnten wir uns alle mehr in die Situation Markenbotschafter*in/Influencer*in zu sein, einfühlen. Ich kam auf die Proben zwar schon mit einem fertigen Text, allerdings war es von Anfang an klar, dass dieser mit dem Team gemeinsam weiterwachsen und sich verändern würde. Während eine Schauspielerin zum Beispiel besonders interessiert war, an theoretischen Texten aus der Soziologie, war ihre Kollegin selbst viel auf TikTok unterwegs und hatte für jede passende Situation einen Mini-Clip spielerisch parat. Viel Probenzeit verbrachten wir dann genau damit, diese unterschiedlichen Textgenres miteinander zu verweben und in unterschiedlichen Situationen und Haltungen im Sprechen auszuprobieren. Aus Pokémon-Soundbytes entstanden so antike Sprechchöre, und aus Abhandlungen über die Kolonialgeschichte wurden ASMRs oder Mukbangs.
Kalter Entzug
Als Gast am Münchener Volkstheater bin ich während der Probenzeit in einer Theater-WG direkt am Haus untergebracht. Als ich am ersten Tag mein Handy mit dem Haus-W-Lan verband und ich natürlich gewohnheitsmäßig TikTok öffnen wollte, musste ich feststellen, dass die App von der Theater-IT blockiert wird und nicht aufrufbar ist. Ich erlebe also parallel zu den Proben hier gerade einen echten kleinen Entzug, der mit vielleicht aber auch ganz guttut, wenn ich ehrlich bin.
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Julian Mahid Carly, 1997 in Kassel geboren, studiert zunächst Deutsche Philologie und Geschichte in Göttingen. Im Anschluss folgt in Ludwigsburg ein Studium der Theaterregie an der Akademie für Darstellende Kunst BW, das er 2021 mit seiner Inszenierung „Mermaid Cut“ am Schauspiel Stuttgart abschließt. Seine Studienarbeit „räuber.bachelor.paradise“ war zum Körber Studio Junge Regie 2020 eingeladen. Als Autor gewinnt er mit „Verbindungsfehler“ 2019 den Osnabrücker Dramatiker:innenpreis. Der Selbst-Experiment-Dokumentarfilm „Weißabgleich“ wird 2020 als bester Film beim FiSH-Festival in Rostock ausgezeichnet.
Seit 2014 erarbeitet er zusammen mit dem Verein „Studio Lev Kassel“ partizipative Musiktheaterprojekte mit Jugendlichen und Jungen Erwachsenen.
https://www.muenchner-volkstheater.de/programm/schauspiel/fata-morgana-ua