Anika Stauch ist ein pragmatischer Mensch. „Wenn ich manchmal so reflektiere, welcher Schritt in meinem Leben auf welchen gefolgt ist, dann war es ein bisschen so: Ich hatte Interesse an Theater. Dann habe ich mich gefragt: ‚Wie komme ich da rein? Was kann ich studieren? Was kann ich damit als Nächstes tun?‘“, erzählt die Jungregisseurin. Die Kurzfassung lautet: durch Praktika und Statisterie, dem Studium der Theater und Medien, viel analoges und digitales Theater. Und während sich Anikas Weg durch die Theaterlandschaft bahnt, ist es ihr Herzenswunsch, diese nachhaltig mitzuverändern.
Gemeinsam mit der freischaffenden Foto- und Video-Künstlerin Marie Liebig wurde Anika zuletzt als Gewinnerin des Regienachwuchswettbewerbs „Bühne digital“ am Theater Erlangen gekürt. Es ist Anikas zweites Projekt in Eigenregie, das zweite, in dem sie mit Marie zusammenarbeitet. Obwohl ihre jüngsten Theatererinnerungen an das Spielen im Theaterstück des Burgfests in ihrer Heimatstadt in Oberfranken geknüpft sind, verschwendete Anika Stauch als Jugendliche nicht viel Zeit mit dem Nachdenken an eine mögliche Karriere am Theater. „Ich hatte überhaupt gar keine Vorstellungen, wie man zum Theater kommt“, erzählt die heute 28-Jährige. „In meinem Umfeld war ein Werdegang in Richtung Kunst einfach nicht Teil der Lebensrealität.“
Ausgerechnet das Pflichtpraktikum an der Schule, das sie ans Festspielhaus in Bayreuth geführt hat „war der Initiationsmoment“, sagt sie rückblickend. 2010, als „Tannhäuser“ für die Bayreuther Festspiele inszeniert wurde und sie eine Statistin-Rolle bekommen hat, hat sie zum ersten Mal miterlebt, was alles hinter einer Theaterproduktion steckt – wie viele Menschen auch hinter der Bühne mitmischen, wie Dramaturgie und Regie mit einer Idee zu Gesellschaft und Dystopie einen Stoff neu beleuchten. Am Bayreuther Festspielhaus blieb sie auch nach ihrem Praktikum – als Statistin. Es folgte das Studium der „Theater und Medien“ in Bayreuth, die Stadt, die sie mag und in der sie ohnehin viel Zeit verbrachte – „auch wieder sehr pragmatisch“.
In Meiningen durfte sie hospitieren und später assistieren, dabei blieb es jedoch nicht. Im Rahmen ihrer Assistenz erhielt sie das Angebot, eine eigene Inszenierung auf die Bühne zu bringen. „Ich war sehr glücklich, diese Möglichkeit zu bekommen“, berichtet sie. „Es ist leider nicht selbstverständlich, als Assistenz einen Raum zum Ausprobieren zu bekommen, sei es für ein Bühnenbild, Dramaturgie, für Kostüm oder eben Regie“. Anika ist geübt darin, als Assistenz fremde Ideen zu verwalten und Proben im Sinne der Regie zu führen – wie ist es aber, wenn die eigenen Ideen einen Raum bekommen, wenn man selbst die Regie ist?
Eine Frage, mit der sie sich in ihrer ersten Regiearbeit konfrontiert gesehen hat: „Ich habe gemerkt, ich kann nicht so tun, als hätte ich absolut Ahnung, wie alles läuft. Ich kann nicht einer Idee folgen, wie eine Regie zu sein hat. Ich muss für mich herausfinden, wie ich es selbst machen kann“, erzählt Anika. „Am fünften Probentag gab es zum Glück diesen Knackpunkt. Ab da habe ich entschieden, offen damit umzugehen, dass ich das alles zum ersten Mal mache, Unsicherheiten habe und vieles erst herausfinden muss“. Sie entschied sich, Édouard Louis „Im Herzen der Gewalt“ auf die Bühne Meiningens zu bringen. Dabei reizt sie besonders ein Inszenierungsaspekt. Sie fragt sich, wie sie mit Erzählformen spielen kann, wie aus dem Roman eine Geschichte mit Dialogen für drei Spieler*innen entstehen können. „Diese Möglichkeiten des Erzählens möchte ich untersuchen – und das schließt beide Bühnen gleichzeitig ein, die digitale und die analoge“.
In ihrem eigens für die „Bühne digital“-Ausschreibung entwickelten Konzepts widmet sie sich Gerhart Hauptmanns „Bahnwärter Thiel“ aus dem späten 19. Jahrhundert. „Ganz klassischer Schulstoff, habe ich irgendwann im Deutschunterricht gelesen“. Schon damals hat die Geschichte des einsamen Bahnwärters, dessen voranschreitendes Unglück keinen Halt macht und sich im Tod seines Kindes zuspitzt, viele Fragen bei der damaligen Schülerin hinterlassen: „Wo und was ist die Mauer in diesem Menschen, die es für ihn unmöglich macht, seine Wünsche und Bedürfnisse zu kommunizieren, um das drohende Unheil abzuwenden?“ Ein Schicksal, für das sie in Erlangen neue Erzählformen finden will. Ihr Konzept wird aus rund 30 Einsendungen ausgewählt, am 25. Mai wird es Premiere haben. Zurzeit nutzt Anika die Abende und Wochenenden, um an der Inszenierung zu feilen, während sie unter der Woche an der Schaubühne Berlin als Regieassistenz arbeitet.
Die Digitalisierung der Hunderte Jahre alten Novelle nimmt Anika auf mehreren Ebenen vor: Zum einen ist Thiel in ihrer Adaption ein Gamer der Gegenwart, der sich mit Eisenbahn-Simulatoren rumschlägt statt ein in der Ödnis arbeitender real life-Bahnwärter. Im ersten Corona-Lockdown besuchte Anika einen Freund, der am Computer Zugnetzwerke als Simulation baute. „Das ist so eine Beschäftigung, die ist von meiner Anika-Realität ein bisschen weit weg“, so beschreibt sie die Begegnung, die sie zu „trail_thielx“, wie sie ihr Stück nennt, inspirieren soll.
Die Einsamkeit, die zentral für Hauptmanns Protagonisten ist, mündet in digitale Realitäten: Die vermeintliche Nähe, die man glaubt, zu online-Persönlichkeiten zu haben, mündet in eine verzerrte Idee über diese Personen – Distanz, verkleidet als Nähe. Ebenfalls digital findet die Aufführung statt: Während die beiden Schauspieler*innen Max Mehlhose-Löffler und Janina Zschernig in Erlangen auf der analogen Bühne spielen, werden die Zuschauenden über das Streaming-Portal Twitch zum Teil der Geschichte. Dort dürfen sie live mitkommentieren und das Geschehen mitsteuern. Anika freut sich auf die hybride Inszenierung, denn die digitale Bühne empfindet sie als „kollektives Erlebnis, das in der ‚Intimsphäre‘“ stattfindet. „Sie hat den Vorteil, dass sie im eigenen Handy, auf dem eigenen Laptop stattfindet und so zu neuen Zielgruppen durchdringt, die die analoge Bühne vielleicht nicht unbedingt abholt oder erreicht“, erzählt sie.
Anika Stauch sprudelt vor Ideen und spricht in Bildern, wenn sie von den Funken erzählt, die ihre erste Zeit am Bayreuther Festspielhaus auf sie sprühte und wenn sie von der Novelle Bahnwärter Thiel als Knochenbau spricht, den sie in Erlangen mit dem „zeitgenössischem Fleisch“ aufstocken möchte. Wie es auch weitergehen wird, analog oder digital, Berlin oder Bayreuth, ein Bedürfnis, das Anika mit sich trägt, ist an einer Gegenbewegung zur festgefahrenen Theater-Maschinerie mitzuwirken.
Dazu gehört für sie, Hierarchien aufzulösen und Theater als gemeinschaftliches Ereignis möglich zu machen – und das fängt schon beim Proben an. „Dazu zählt, keine blöden Aufgaben nach unten zu schieben und niemanden vom künstlerischen Prozess auszuschließen, ob das jetzt Personen sind, die auf der Bühne stehen oder hinter der Bühne arbeiten.“ Ein klein bisschen Utopie konnte sie bereits in der Zusammenarbeit mit der Regisseurin Sarah Kohm an der Schaubühne Berlin tanken. Dort arbeitet sie aktuell mit ihr an der Inszenierung „Erinnerung eines Mädchens“ zusammen. Zu Beginn der Produktion trafen sich alle Beteiligten, ob vom Schauspiel, vom Kostüm oder der Hospitanz zu einer „Open Heart Session“, wie sie es nennen. Dort nahmen sie sich den Raum, um sich über ihre Arbeitswerte auszutauschen – „Das hat zu einer tollen Atmosphäre geführt“, sagt sie. Angstfreie und empowernde Probenräume zu schaffen, liegt ihr als Regisseurin am Herzen und in ihrer Regie-Macht – eine Macht, von der sie sich in ihrem aktuellen Verständnis gern verabschieden möchte: „Ich bin eine große Verfechterin vom Kollektiv-Gedanken am Theater“. Anika Stauch hat ihre Prinzipien.