Am 24. Februar 2022 beginnt die Russische Föderation einen Angriffskrieg auf die Ukraine. Am 14. März übermitteln deutsche, schweizerische und österreichische Theater in Kooperation mit dem Left Bank Theatre (Kyiv) eine Erklärung an das ukrainische Kulturministerium. Die unterzeichnenden Theater beabsichtigen, (geflohenen) Künstler:innen des angegriffenen Staates eine Plattform zur Verfügung zu stellen und ihre Kunst u.a. in Deutschland zugänglich zu machen. In diesem Zusammenhang fordern sie das ukrainische Kulturministerium dazu auf, Künstler ins europäische Ausland ausreisen zu lassen, denn männliche Bürger zwischen 18 und 60 Jahren dürfen die Ukraine zu diesem Zeitpunkt nicht verlassen.
Welche Aktionen realisieren die deutschen Theater gemeinsam mit ukrainischen Akteur:innen? Wie verhalten sich die Theater in diesem Krieg? In meiner Masterarbeit habe ich mich gefragt, was infolge dieser Absichtserklärung an deutschen Stadt- und Staatstheatern passiert. Dafür habe ich drei Häuser genauer untersucht.
Theater wachsen über sich hinaus
Die Absichtserklärung hat Erfolg! Sie bewirkt zunächst, dass tatsächlich eine Gruppe von Künstlern aus der Ukraine ausreisen darf – trotz des Verbots. Und dann?
Die untersuchten Theater produzieren szenische Lesungen, ein Klassenzimmerstück oder einen Audiowalk im Stadtraum mit ukrainischen Künstler:innen. Sie übertragen eine Premiere aus Kyiv live in ihren Theatersaal, veranstalten Podiumsdiskussionen und mehr. So werden bis dahin unterrepräsentierte Inhalte mit Bezug zur Ukraine verbreitet. Themen wie die Krimannexion, die historischen Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine, das Leben in einer Stadt im Krieg oder der Euromaidan werden verhandelt. An einem der Häuser zeigen ukrainische Künstler:innen Arbeiten, die sie vor dem Krieg in Mariupol entwickelt haben – während das dortige Theater von russischen Bomben zerstört wird.
Dabei begreifen sich die Theater nicht nur als Ort diskursiver Aushandlung. Da einige der Aufführungen zweisprachig realisiert werden, sind sie auch für Publikum aus der Ukraine zugänglich. Für geflüchtete Frauen und Kinder veranstaltet ein Theater einen Willkommensbrunch auf seinem Vorplatz, ein anderes nimmt geflüchtete Kolleg:innen in Theaterwohnungen auf, unterstützt sie bei Behördengängen und hilft ihnen, ein Sozialleben aufzubauen.
Zudem sammeln die Theater beispielsweise bei Benefizgalas Geld und Sachspenden. Auf diese Weise finanzieren sie u.a. die Organisation Artists at Risk oder Hilfstransporte eines deutsch-ukrainischen Vereins. Sie unterstützen damit Menschen in der Ukraine und geflüchtete Kulturschaffende. Auf Anraten einer ukrainischen Künstlerin wird auf der Website eines Theaters zeitweise unter anderem empfohlen, an das ukrainische Militär zu spenden.
Der Ukrainekrieg verändert die untersuchten Stadt- und Staatstheater
Die Netzwerke der Stadt- und Staatstheater erweitern sich. Die drei untersuchten Theater arbeiten seit Beginn des Angriffskrieges für Veranstaltungen verstärkt mit Kulturschaffenden, Journalist:innen, Wissenschaftler:innen und Theatern aus und in der Ukraine zusammen.
Um gesammelte Sachspenden weiterzuleiten, kooperiert ein Staatstheater mit einem Netzwerk, das im Kontext der sogenannten Flüchtlingskrise im Jahr 2015 entstanden ist. So weiß der beteiligte deutsch-ukrainische Verein beispielsweise, welche Güter wo in der Ukraine benötigt werden. Ein anderes Theater gründet zusammen mit der Heinrich-Böll-Stiftung und geflüchteten Kulturschaffenden die Ukrainian Artistic Task Force. Dieses Vermittlungsportal soll Gesuche von geflüchteten Kulturschaffenden mit Stellenangeboten von Kulturorganisationen in Deutschland verbinden.
Ein Stadttheater legt zusammen mit einem Landesministerium und einem Künstler:innenhaus ein Stipendienprogramm für geflüchtete Kunstschaffende auf und organisiert gemeinsam mit dem Goethe-Institut Sprachkurse für geflüchtete Kolleg:innen.
Innerhalb weniger Wochen versammeln die Theater für ihre Aktionen gezielt verschiedene Akteur:innen. Die Kooperationspartner:innen vergrößern gegenseitig ihre Handlungsspielräume. Sie teilen Kontakte, Wissen, Geld, Räumlichkeiten, Ideen für Aktionen und mehr.
Gleichzeitig werden durch die Zusammenarbeit mit ukrainischen Kolleg:innen die Theatermitarbeitenden mit neuen Perspektiven konfrontiert. Sie werden für ukrainische Themen sensibilisiert und mobilisiert und hinterfragen ihre Werte und Glaubenssätze, zum Beispiel ihre Haltung zu Waffenlieferungen oder zur Zusammenarbeit mit russischen Künstler:innen.
Vernetzung fördert Fantasie
Das kulturelle Leben in der Ukraine ist eines der (zahlreichen) Opfer des Angriffskrieges. Kulturschaffende müssen fliehen, Infrastrukturen werden zerstört und Projekte beendet. Die Bombardements von Kultureinrichtungen und die Belagerungen von Städten schränken das kulturelle Leben vor Ort massiv ein. Zugleich wissen Menschen in Deutschland gerade in den ersten Wochen des Krieges eher wenig über die Ukraine. Neue Netzwerke zu erproben und zum Beispiel ukrainischen Künstler:innen und ihren Themen in Deutschland eine Öffentlichkeit zu bieten, hat also aus unterschiedlichen Gründen eine politische Dimension.
Die Aktivitäten einiger deutscher Stadt- und Staatstheater im Ukrainekrieg zeigen: Die Theater sind nicht nur auf Bühnen aktiv, sondern auch außerhalb ihrer Häuser. Sie realisieren nicht nur szenische Aufführungen, sondern vernetzen verschiedene Akteur:innen, leisten Flüchtlingshilfe und vieles mehr. Auf diese Weise tragen sie dazu bei, eine Krise zu transformieren. (Vom Lösen einer Krise zu sprechen, wäre angesichts der Komplexität gegenwärtiger Krisen anmaßend.)
Was also wäre zu tun im Theater der Krisen? Die Häuser könnten 1. ihr Engagement gezielt ausbauen (indem sie weniger produzieren) und 2. strategische Kooperationen eingehen. Vernetzung erweitert die Handlungsoptionen der Theater, ihre Reichweite, ihre Spielpläne, ihre Fantasie. Die Vorstellung dessen, was Theater ist, würde sich verändern: Das vernetzende Theater könnte Möglichkeitsraum sein, Impulsgeber und Ressource für politische Initiativen, Austragungsort von Konflikten oder Akteur in der Kulturdiplomatie.
Es mangelt jedenfalls nicht an Krisen, in denen Theater – nicht nur auf der Bühne – tätig werden können.
Johannes Hebsacker studiert seit Herbst 2020 Dramaturgie (M.A.) an der Theaterakademie August Everding und der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er setzt sich in seinem Studium vor allem mit Zusammenhängen zwischen Kunst und Gesellschaft auseinander. In seiner Masterarbeit „Theater macht Politik. Kulturorganisationen in der Zeitenwende“ untersuchte er deutsche Theater als politische Akteure im Ukrainekrieg. 2022 wurde er mit dem Klaus-Zehelein-Preis für Dramaturgie [der Theaterakademie August Everding] ausgezeichnet.