Das Römische Reich, die Ming-Dynastie, die Sowjetunion – seitdem es die Menschheit gibt, sind auf der ganzen Welt immer wieder mächtige Imperien entstanden. Aber so groß ihre Erfolge auch waren, am Ende stand immer ihr Zerfall. Doch statt aus der Vergangenheit zu lernen, wurde oftmals der Versuch unternommen, neue imperialistische Strukturen auf den Ruinen einstiger Reiche zu errichten – mit eben selbigem Ausgang. Ein Teufelskreis. Denn so ziemlich alle Gesellschaften in der Geschichte der Menschheit sind irgendwann untergegangen. Für wie fortschrittlich wir die westliche Zivilisation auch halten mögen, für wie stabil die Demokratie, für wie alternativlos den Kapitalismus, für wie sicher die Europäische Union und die NATO – wieso sollte es uns (irgendwann) anders ergehen?
Die namenlose Großstadt auf dem Meeresgrund, auf die wir blicken, ist bereits (einmal) untergegangen. Nur Relikte wie Säulen, Statuen, Torbögen und Treppen erinnern noch an das Leben über der Wasseroberfläche. Aber auch die neu erreichte glanzvolle Ära unter Wasser neigt sich dem Ende entgegen. Selbst die Radiomoderatorin spricht von einer krisengebeutelten Gesellschaft. Es braucht bilaterale diplomatische Gespräche zur Konfliktlösung, die Körper der Meerjungfrauen werden von Korallen befallen und die Natur drängt in ihr heimisches Territorium zurück. Doch davon wollen die Bewohner:innen nichts wissen. Man erzählt sich lieber Geschichten aus der guten alten Zeit und geht unbeirrt seinen Beschäftigungen nach. So tritt schließlich auch die neue Premierministerin, Hugh, ihr Amt an. Wird sie sich dem drohenden Niedergang der Zivilisation mit voller Aufmerksamkeit annehmen können?
Mit „Alles ist aus, aber wir haben ja uns (Unterwasser)“ hat Autor und Regisseur Bonn Park gemeinsam mit dem Komponisten Ben Roessler für das Münchner Volkstheater eine musikalische Liebeskomödie in einer Unterwasserwelt kreiert. Nach ihren Erfolgsproduktionen „Drei Milliarden Schwestern“ (Volksbühne Berlin), „Gymnasium“ (Münchner Volkstheater) und „Rückkehr zu den Sternen (Weltraumoper)“ (Düsseldorfer Schauspielhaus) widmen sie sich nun der mythischen Welt der Wasserwesen und dem Filmgenre der Romcom. Romcoms sind romantische Komödien, die vor allem in den Nullerjahren produziert wurden. Dazu zählen Filme wie „Tatsächlich… Liebe“, „Notting Hill“ oder „Pretty Woman“, in denen oftmals amerikanische Schauspieler:innen wie Hugh Grant oder Sandra Bullock mitspielten. Auf der Bühne ist nun eine ganz eigene Erzählwelt zu sehen, die Genre und Kulisse auf verspielteste Art und Weise zusammenbringt – mit fantasievollen Bildern, liebenswürdigen Figuren, schwungvoller Musik und peinlich-kitschigen Annäherungsversuchen. Und wie es sich für das Genre eben gehört auch mit einer großen Vorhersehbarkeit. Da darf sich das Herz schon mal warmlaufen für das große Finale am Gate.
Doch erstmal zurück zum Anfang: Premierministerin Hugh (Vincent Sauer) hat gleich an ihrem ersten Tag im Amt alle Hände voll zu tun. Dabei hat sie nicht nur verschlafen, sondern auch den Staatsbesuch von Kaiserin Li (Henriette Nagel) vergessen. Es muss also improvisiert werden: Statt großem Staatsbankett findet das Abendessen in Hughs Elternhaus statt. Doch als die Gästin von dem Seepferdchen-Taxi steigt, scheinen alle diplomatischen Bemühungen urplötzlich zur Nebensache zu werden – das muss Liebe auf den ersten Blick sein.
Die Inszenierung steht ästhetisch ganz im Zeichen der Unterwasserwelt: Bühnenbildnerin Lara Kirst hat einen angedeuteten Palast auf die Bühne gesetzt, dazu gibt es zweidimensionale Kulissenteile wie Muschelbänke und Korallenriffe in Pastellfarben – eingehüllt in blau-schimmerndes Licht. Auch die Kostüme von Leonie Falke reihen sich mit ihrem Meerjungfrauen-Look in diese Optik ein. Die Figuren sind allesamt Meerjungfrauen, die in ihren Rollen teilweise cross-gender besetzt sind (z. B. Max Poerting als Hughs Mum und Luise Deborah Daberkow als Hughs Dad). Dazu wird – konsequenterweise – das generische Femininum und ausschließlich weibliche Pronomen verwendet. Auch auf musikalischer Ebene setzt sich die ästhetische Setzung fort: Vier Musiker:innen an Harfe, Marimbaphon, Kontrabass und Synthesizer begleiten die Handlung mit typischen Unterwasserklängen, wie wir sie aus Filmen wie „Arielle, die Meerjungfrau“ kennen. Dazu gibt es in musicalhafter Manier auch einzelne Gesangsnummern, die allerdings im Vergleich zu vorherigen Park-/Roessler-Arbeiten weniger eingesetzt werden und gesanglich etwas schwächer ausfallen. Und trotzdem gelingt es dem Ensemble mit großer Feinfühligkeit und Spielfreude den einzelnen Figuren Leben einzuhauchen – immer auf einer schmalen Gratwanderung zwischen Kitsch, Lächerlichkeit und dem ernsthaften Verhandeln von Konflikten.
Auch auf dem Basar der romantischen Komödien hat sich Park in puncto Figurenzeichnung und -konstellationen, Motiven sowie Handlungssträngen ausgiebig bedient: Im Zentrum steht dabei stets die Suche nach bzw. das Zelebrieren von romantischer Liebe. Und wenn Hugh die einzige ist, die noch Single ist, ist die Intention von Familie und Freunden natürlich völlig klar: Auch Hugh muss schnellstmöglich unter die Haube kommen. Nach einem dramatischen Hin und Her mit Kaiserin Li kann die Unmöglichkeit der Liebe natürlich nur in einem filmreifen grand finale am Flughafen samt Heiratsantrag münden. Der Antrag wird zwar zunächst abgelehnt, doch der lang ersehnte Kuss fällt endlich. Schließlich heben die beiden, wortwörtlich, ab und begeben sich im Flieger auf Wolke sieben.
Was bleibt, ist der Glaube an das positive Denken: „Manchmal, wenn man an die Zukunft denkt und glaubt, dass sie gut wird, dann…“ Es kommt ganz auf die individuelle Lebensauffassung an: Der Optimist, der in den Dingen das Positive sehen will, wird eben genauso fündig werden wie der Pessimist, der das Negative sucht. Einen Einfluss auf den drohenden Niedergang des Imperiums hat die individuelle Grundhaltung nicht, sie wird sie weder ausbremsen noch aufhalten können. Manche Imperien zerfallen in einem langwierigen, schleichenden Prozess, andere brechen ganz plötzlich von heute auf morgen zusammen – unabhängig von der jeweiligen Ursache. All diese Mächte und ihre Zusammenbrüche haben gemein, dass die politischen und sozialen Systeme, die sie stützten, plötzlich nicht mehr funktionierten. Darauf hat das Individuum keinen Einfluss. Aber die kitschige Vorstellung, dass, wenn am Ende alles zerbricht, wir ja noch einander haben, macht das Ganze für den Einzelnen zumindest ein bisschen erträglicher. Kann allerdings auch als naive Realitätsflucht interpretiert werden. Es kommt eben ganz auf die eigene Perspektive an.
Mit: Vincent Sauer, Anne Stein, Julian Gutmann, Lukas Darnstädt, Lioba Kippe, Max Poerting, Luise Deborah Daberkow, Henriette Nagel, Sonja Lachenmayr, Nino Stübinger, Patrick Stapleton, Akari Nomizu
Regie: Bonn Park
Komposition: Ben Roessler
Bühne: Laura Kirst
Kostüme: Leonie Falke
Musikalische Leitung: Sonja Lachenmayr
Choreografie: Johanna Heusser
Dramaturgie: Bastian Boß
Licht: Björn Gerum
Korrepetition: Elisabeth Thön