Kritik

„L’enfant et les sortilèges & Iolanta“ in der Regie von David Bösch an den Bühnen Bern

An den Bühnen Bern inszeniert David Bösch Maurice Ravels „L’enfant et les sortilèges“ und Peter I. Tschaikowskys „Iolanta“ als Doppelabend. Die Inszenierung stellt gekonnt zwei Werke in Kontrast, die im Kern ein verbindendes Element haben: die überschäumenden Gefühle junger Menschen.

Foto oben: L'enfant et les sortilèges © Florian Spring
Beitrag von: am 05.03.2023

Mit zwei Werken tauchen Regisseur David Bösch und Bühnenbildner Patrick Bannwart in die verwunschene Welt des Kinderzimmers ein und sprengen innerhalb dieser eigentlich engen vier Wände die Grenzen jeder Fantasie. An den Bühnen Bern inszeniert Bösch Maurice Ravels „L’enfant et les sortilèges“ und Peter I. Tschaikowskys „Iolanta“ als Doppelabend. Diese beiden Stücke nähern sich aus ganz verschiedenen Richtungen der emotionalen Innenwelt junger Menschen: L’enfant (Das Kind) bei Ravel demoliert aus Wut sein Kinderzimmer samt Interieur, misshandelt sein Spielzeug und auch die Tiere im Garten. Iolanta, die Hauptfigur in Tschaikowskys Oper, wird ihre ganze Kindheit lang behütet, eigentlich überbehütet, und von der Außenwelt augenscheinlich geschützt und abgeschirmt. Sie ist durch eine nervliche Störung blind, wird auf Geheiß ihres Vaters, des Königs, und den Bediensteten aber im Unwissen darüber gelassen.

Chaos im Kinderzimmer

Schon die Rollenverteilung in „L’enfant et les sortilèges“ lässt die kindliche Fantasie lebendig werden. Das pubertäre Kind, dessen Kostüm an eine wilde Pipi Langstrumpf erinnert, ist der einzige menschliche Charakter; ansonsten wechseln die Sänger:innen zwischen vielen Rollen, sind mal Polstersessel, mal Standuhr, Teekanne und -tasse oder Amsel, Fledermaus und Eichhörnchen – und sogar die alles verhasste Arithmetik. Mit liebevoller Detailarbeit werden in Bern zusätzlich alle Dimensionen der Kinderzimmerfantasie auf der Bühne wahr. Projektionen an die hintere Bühnenwand lassen jeden zum Leben erwachten Gegenstand lebens- und übergroß werden – vom Schäfchen-Mobile über dem Stockbett bis zur Prinzessin aus dem Märchenbuch.

Die Inszenierung lebt von einer Detailliebe in Bühnenbild und Handlung, an der man sich kaum sattsehen kann. Das Kind durchläuft wie bei „Alice im Wunderland“ eine real gewordene Traumwelt, die es staunen, sich fürchten und traurig werden lässt. Zu Beginn ist das Kinderzimmer zu sehen, in dem das Kind wütet, bis sich die hintere Wand, die aussieht wie eine Wandtafel, an der fett „Ich hasse Schule“ gekrakelt steht, nach hinten schiebt und sich so nicht nur die Fantasiewelt, sondern auch optisch der Raum für die Zauberwelt öffnet. Darin erwachen die Gegenstände und Dinge zum Leben und klagen über die Zerstörungswut des Kindes. Besonders schön ist die Arithmetik, die als klappriger Greis am Stock aus dem Schrank steigt – von einem Stuhl aus, der immer höher in die Luft wächst, dirigiert diese Figur den Chor, alles grausige Mathe-Formeln, die immer lauter werden und dem Kind wie dem Publikum in den Ohren dröhnen.

Schließlich führt die Handlung in den nächtlichen Garten, verwunschen und gruselig mit Käfigen am Boden und von der Bühnendecke hängend, in denen Plüschtiere und gefangene Tiere sitzen. Hier wird das Kind von den Tieren heimgesucht, die es misshandelt und getötet hat. Das Spiel mit den Größendimensionen wird dabei weiter fortgeführt: Das erstochene Froschkönig-Plüschtier, dem das Kind einen Arm abgerissen hat, erscheint als Sänger mit blutigem Armstumpf wieder. Das Leid der Figuren dringt auf das Kind ein und wird auf der Bühne übermächtig; schließlich werden zwei Riesenkröten mit gelb leuchtenden Augen und beweglichen Mäulern von beiden Seiten auf die Bühne geschoben. Dieser wunderbare Zauberspuk bringt das Kind letztendlich zur Reue über sein Verhalten.

Iolanta © Florian Spring

Die Prinzessin im Glaskasten

Das Bühnenbild von „Iolanta“ bricht effektvoll mit dem bildstarken Geschehen von „L’enfant et les sortilèges“. Schlicht steht in der Mitte ein Glaskasten, der Iolantas Zimmer darstellt. Den Vordergrund der Bühne prägen bunte Blumensträuße, nach Farbe sortiert. Schließlich ist Iolantas Kampf eher ein innerer. Es herrscht kein sichtbares Chaos, sondern die überbehütete Welt der Prinzessin, in der alles schön und rein sein soll. Nur auf den Glasscheiben des Kastens sind geisterhafte Handabdrücke zu sehen, sie stehen für Iolantas Fühlen, das zu einem Großteil auf dem Tastsinn beruht. Ihre Blindheit ist ein scheinbarer Makel, den ihr gesamtes Umfeld zum Tabu macht und vor ihr verborgen hält. Ein Schild mit der Aufschrift „BETRETEN VERBOTEN“ wird erst sichtbar, als sich der Glaskasten ein Stück dreht – die Idylle ist ein gläsernes Gefängnis, das an Schneekugeln erinnert. Darin gefangen ist nicht nur Iolanta, sondern auch die große Angst ihres Vaters, der sie beschützen will. Der Glaskasten wird einige Male verschoben und sogar an Seilen in die Luft gehoben, bis er über dem Bühnenboden schwebt.

Der Fokus der Inszenierung kanalisiert sich darauf, dass man nicht mit den Augen sehen können muss, um innere Erkenntnis zu erlangen. Iolanta wusste nie, dass sie blind war und konnte sich so auch keines eigenen Makels bewusst sein. Und trotzdem erkennt sie, was das Gute und was Liebe ist. Sie verliebt sich in den Ritter Vaudémont, der ihr als erster erzählt, was Licht ist.

Märchenhafte Musik

Das Ensemble macht den Abend zu einem unvergesslichen Opernerlebnis. Beeindruckend ist auch die Wandelbarkeit, mit der die Sänger:innen flink in die verschiedenen Rollen schlüpfen. Besonders Mengqi Zhang, Claude Eichenberger und Jonathan McGovern bezaubern mit ihren Stimmen in „L’enfant et les sortilèges“. In „Iolanta“ sorgen Matheus França als König René, Verity Wingate als Iolanta sowie James Ley als Vaudémont für Gänsehautmomente. Das Berner Symphonieorchester unter der Leitung von Nicholas Carter spielt beide Stücke auf tollem Niveau. Ravel schreibt in die Partitur Instrumente wie eine Celesta, ein Englischhorn oder ein Kontrafagott, aber auch eine Käsereibe und eine Windmaschine. In Bern wurde eigens ein Klavier für die Inszenierung umgebaut, um den metallischen Klang des von Ravel eingesetzten „Piano luthéal“ nachzuahmen. In „Iolanta“ ist die Traurigkeit vom ersten Ton des Englischhorns an spürbar. In der einfachen, aber herzzerreissenden Geigenmelodie kurz darauf spiegelt sich die kindhafte Seele Iolantas. Die Innigkeit ihrer Liebe, aber auch die Sorge und Hoffnung ihres Vater werden durch die Musik übertragen und sorgen für regelmäßige Rückenschauer im Publikum.

Der Doppelabend stellt zwei Werke in Kontrast, die im Kern ein verbindendes Element haben: die überschäumenden Gefühle junger Menschen. Beide Hauptfiguren leben in einer verwunschenen, märchenhaften Welt, die in ihrer Entwicklung zum vorläufigen Happy End führt. Befreit werden am Ende dabei aber nicht nur die Kinder, sondern auch die Erwachsenen.

Musikalische Leitung: Nicholas Carter

Regie: David Bösch

Bühne: Patrick Bannwart

Kostüme: Moana Stemberger

Licht: Bernhard Bieri

Chorleitung: Zsolt Czetner

Dramaturgie: Rainer Karlitschek

Chor der Bühnen Bern

Berner Symphonieorchester

 

L’enfant et les sortilèges:

L’Enfant: Amelie Baier

La Princesse/Le Feu/Le Rossignol: Mengqi Zhang

La Chauve-Souris/La Bergère: Katharina Willi

La Chatte/L’Ecureuil/Un Pâtre: Lucija Ercegovac

Maman/La Tasse Chinoise/La Libellule: Claude Eichenberger

La Théière/Le Petit Vieillard/La Rainette: Michał Prószyński

L’Horloge Comtoise/Le Chat: Jonathan McGovern

Le Fauteuil/Un Arbre: Christian Valle

La Chouette/Une Pastourelle: Iria Arias Gomez

Chorsolist:innen: Carlos Nogueira, David Park, Alexandra Shenker, Manami Takasaka

 

Iolanta:

König René: Matheus França

Robert, Herzog von Burgund: Jonathan McGovern

Vaudémont, burgundischer Ritter: James Ley

Ibn-Hakia, maurischer Arzt: Thomas Lehman

Almerik, Waffenträger des Königs: Michał Prószyński

Bertrand, Türhüter im Schloss: Christian Valle

Iolanta: Verity Wingate

Martha: Claude Eichenberger

Brigitta: Mengqi Zhang

Laura: Lucija Ercegovac

Studienleitung: Hans Christoph Bünger

Korrepetition: Sonja Lohmiller, Angela Grossmann

Regieassistenz: Benedek Nagy

Inspizient: Miklos Ligeti

Bühnenbildassistenz: Dorothea Blank

Kostümassistenz: Martina Sluka, Valerie Ehrenbold

Sprachcoaching: Marianne de Pury, Julia Reznik

Redaktion der Übertitel: Rebekka Meyer

Übertitelinspizienz: Stephania Dolezal

Leitung Statisterie: Robert Keller