Wer bin ich – und wie viele?
Auf der Bürgerbühne treffen sich Laien-Darsteller:innen aus unterschiedlichen beruflichen und gesellschaftlichen Bereichen, um gemeinsam ein Stück zu erarbeiten. In „ICH“ sind sie zwischen 15 und 82 Jahre alt. Mit den Mitteln des Theaters haben sie sich dem Begriff des Ichs angenähert. Bevor es aber auf der Bühne losgeht, wird das Publikum mit kleinen Botschaften, die auf den Sitzplätzen verteilt sind, aufs Thema eingestimmt. Auf meinem Sitz liegt ein Zettel, auf dessen Vorderseite das Wort „EHRLICH“ (mit hervorgehobenem „ICH“) gedruckt ist. Auf der Rückseite steht: „Glaubst du deine eigenen Lügen?“
Kurz habe ich Zeit, darüber nachzudenken, dann wird es dunkel im Saal und auf der Bühne. „ICH“ beginnt mit einer Geburtsszene, in der sich drei Darstellerinnen aus einem Stoff, der sie umhüllt, winden. Dazu beschreibt ein Monolog aus dem Off die Gedanken des Kindes, das da gerade geboren wird und selbstverständlich bereits im Mutterleib ein Bewusstsein – also auch eine Identität? – hat. Selbst das Neugeborene ist kein unbeschriebenes Blatt. Es wurde bereits durch seine Sinnesempfindungen – den Geschmack des Fruchtwassers, das Berühren der Fruchtblase, Musik oder die Stimmen der Eltern – geprägt.
Persönliche Erfahrungen, da sind sich alle Spieler:innen einig, prägen unsere Identität maßgeblich – neben unserer Nationalität, unserem Geschlecht und Aussehen etwa. In kurzen Szenen verweben die Darsteller:innen ihre eigene Biografie – mehr oder minder verfremdet – mit philosophischen Fragen nach der Identität. Eine junge Frau erinnert sich an die Selbstverständlichkeit, die sie als Kind empfunden hatte und bringt die Verunsicherung, die etwa die Pubertät für die Identität bedeutet, zur Sprache. Eine andere Darstellerin blickt dankbar und mit ein bisschen Demut auf ihre Vorfahren, deren Gene sie in sich trägt. „Was mich ausmacht“, stellt sie schließlich fest „ist aber, wie ich diese Gene genutzt habe.“ Ein Darsteller erzählt von der Bedeutung eines Fußballclubs für seine Identität. In der Fan-Gemeinde fühlt er sich so akzeptiert wie sonst nirgendwo. Dort wird er nicht ausgegrenzt.
Identifikationspotential für das Publikum
Die Fülle an Geschichten, die die Darsteller*innen dem Publikum erzählen, ist beeindruckend. Dabei gelingt es ihnen, die persönlichen Episoden so darzustellen, dass sie Identifikationspotential für das Publikum bieten. Sie stellen Themen heraus, die viele berühren: Die Differenz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung, das Hadern mit oder die Dankbarkeit für die eigene Nationalität, die Suche nach der eigenen Berufung, der Wunsch nach „Echtheit“ und das Kokettieren mit alternativen Lebensentwürfen. Besonders interessant wird es immer dann, wenn zwei Spieler*innen ihr Erleben einer gleichen Situation teilen. Für den einen wurde seine Identität durch die Wende erschüttert, weil er etwa seine beruflichen Weichen neu stellen und bemerken musste, dass es mit der in der DDR vielbeschworenen Gemeinschaft nun vorbei war. Die andere beschreibt als besondere Herausforderung der Wende eher die Abwertung all derer und all dessen, was in der DDR existiert hatte. Im vereinigten Deutschland musste sie sich plötzlich für ihre Ost-Herkunft rechtfertigen. Ihr Ost-Radiosender und damit auch ihre Stelle wurden eingestampft. Sie sagt: „Wenn ich auf mein Ich schaue, gibt es da nicht nur eines, sondern mehrere: Eines vor und eines nach der Wende.“ Brüche in unserem Leben, so ist sie überzeugt, fragmentieren auch unsere Identität: Wir alle hätten viele Ichs.
Bildlich werden all diese Szenen durch das Motiv der Blackbox zusammengehalten. Jede:r Darsteller:in verfügt über solch eine schwarze Kiste, in der die eigenen Gedanken, Erlebnisse, Gefühle verborgen sind. Für das Publikum öffnet jede:r Spieler:in in der Inszenierung seine oder ihre eigene Blackbox. Die Darsteller:innen gewähren dem Publikum Einblick in ihr Leben und ihre Seele. Die Blackbox ist eine originelle Metapher, die wunderbar im Spiel funktioniert und sich auch im Bühnenbild (Iris Castill López, Michelle Huning) fortsetzt. Auf der Bühne stehen lauter schwarze Kisten, die, je nach Szene, zu Mauern aufgereiht, zu einer temporären Leinwand gestapelt oder als Sitzgelegenheiten verteilt werden. Mehr braucht es auch wirklich nicht, um den gut kuratierten und lebendig erzählten Geschichten eine Bühne zu bieten. Viele der Spieler:innen bringen obendrein musikalische Fähigkeiten mit. Gesang, Klavier- und Saxophonspiel sowie (Body-)Percussion rahmen das Erzählte atmosphärisch ein.
Umweltzerstörung und Klimakrise
Damit wäre die Inszenierung eigentlich rund. Aber dann tut sich neben der Identitäts-Thematik gegen Ende ein zweites Feld auf: Der Umweltschutz. In einer Szene klagen die jüngeren Darsteller:innen – durch Seile gefesselt und von den älteren zurückgehalten – ihre Vorfahren an, ohne Rücksicht auf künftige Generationen den Planeten verbraucht und zerstört zu haben. Zudem fragen die Jungen, warum ihre Eltern sie noch in diese zerstörte Welt setzen mussten. Umweltzerstörung und Klimakrise könnte man nun als kollektive, identitätsprägende Erfahrung der Generationen Y und Z verstehen. Wirklich angebunden an den Rest der Inszenierung ist diese Szene aber nicht. Richtig gewollt wirkt dann ganz zum Schluss ein vom gesamten Ensemble gesungenes Lied, in dem sich zum Umweltschutz bekannt wird. Die auf der Bühne vertretenen Generationen scheinen sich also geeinigt zu haben, dass Umweltschutz das Gebot der Stunde ist. Löblich, aber wenig glaubwürdig. Wäre es nicht interessanter, darzustellen, dass und warum Klimakrise und Umweltzerstörung für die eine Generation so einschneidende und identitätsprägende Themen sind, während für die Generationen davor anderes wichtiger war?