Wie Liebe alles zersetzen kann
Als Antwort auf die US-amerikanische AIDS-Krise und folgende Schwulen- und Queerfeindlichkeit der 1980er Jahre schreibt Jonathan Harvey 1993 „Beautiful Thing“. Der Alltag von Jamie, Ste und Leah, drei benachbarten jungen Menschen einer armen Hochhaussiedlung, ist von Schuleschwänzen, häuslicher Gewalt und Drogenkonsum geprägt. Jamies alleinerziehende Mutter Sandra versucht, aus der Armut zu fliehen und wird dabei von ihrem Lebenspartner Tony unterstützt. Jamie und Ste verlieben sich ineinander, können dem aber nicht nachgehen. Zu groß ist die Angst vor Stes homophoben Zuhause, vor Mobbing und Gewalt in der Schule. „Hast du Angst davor, Schwuchtel genannt zu werden?“, ist die Frage, aus der die scheinbare Unmöglichkeit ihrer Liebe und das damit einhergehende Leiden wurzelt. Nach vielen inneren Konflikten gelingt der Befreiungsschlag: Jamie und Ste kommen zusammen und Jamies Mutter eröffnet eine eigene Bar. Der Ausbruch aus heteronormativen und klassischen Zuschreibungen glückt und queeres Verliebtsein wird als das dargestellt, was es ist: wunderschön und normal. Liebe und wirtschaftliche Sicherheit aus denkbar ungünstigen Ausgangsbedingungen gelingen.
Spaßiger Auftakt mit Feel-Good-Stimmung
Der Abend wird groß eröffnet: Beim Betreten des Saals läuft laute Popmusik, buntes Licht leuchtet lustig auf, zwei junge Schauspieler:innen begrüßen gut gelaunt das Publikum und drücken jeder Person bunte Plastikkämme, Staubwedel oder Zahnbürsten in die Hand. Kaum hingesetzt, wird man dazu aufgefordert, sein Utensil zur Musik mitzuschwenken. Man fühlt sich willkommen, es herrscht eine sehr ausgelassene Atmosphäre.
Nach dem Einlass geht’s ans Eingemachte: Die Figuren und ihre Probleme wie Schulverweise, erfolglose Suchen nach einem Platz in Sportvereinen und Angst vor häuslicher Gewalt werden eingeführt. Weiterhin wirkt alles leicht überinszeniert. Kaum eine Gag-Chance bleibt ungenutzt, viele comichafte Sprechhaltungen und schnell wechselnde Musikeinsätze bewirken, dass es trotz der ernsthaften Themen viel Albernheit auf der Bühne gibt. Stören tut das zu diesem Zeitpunkt keineswegs. Die Feel-Good-Stimmung des herzlichen Ice-Breaker-Empfangs wird stimmig fortgeführt.
Schwierigkeiten in der Zärtlichkeit
Dann aber das erste Problem: Je mehr die Annährung von Jamie und Ste voranschreitet und je größer der Wunsch der Mutter nach beruflicher Selbstständigkeit wird, desto weniger kann der Abend die Energie seines anfänglichen Höhenfluges halten. Ste (Salome Kießling) fängt an, bei Jamie (Yazan Melhem) zu übernachten, um vor den Schlägen seiner Familie geschützt zu sein. Schlafen sie in der ersten Nacht noch nebeneinander in entgegensetzte Richtungen, also Kopf und Fuß, so cremt in der darauffolgenden Nacht Jamie Stes Verletzungen ein, danach wird gekuschelt, später auf dem Dach im Nebel heimlich geknutscht. Kein Kribbeln, keine betäubende Aufregung bei den ersten körperlichen Berührungen von zwei verliebten Menschen ist spürbar, keine beginnende „revolutionäre Metamorphose“ der Liebe, wie es das Programmheft ankündigt. Die zärtlichen, stillen und inhaltstragenden Szenen, die definitiv schwieriger zu spielen und inszenieren sind als lustige Publikumsbegrüßungen, wirken an diesem Abend oft konstruiert und auswendig gelernt. Dieses Prinzip zieht sich durch die gesamte Vorstellung: humorvolle, überdrehte Momente funktionieren gut, sensible und ernsthafte wirken blass. Vorstellbar ist allerdings, dass Grubes „Beautiful Thing“ zu den Inszenierungen gehören wird, die erst nach mehreren Vorstellungen auch in anspruchsvollen, ruhigen Szenen glänzen werden, zur Premiere aber noch nicht eingespielt waren.
Zu viel Quatsch, zu wenig Schlinge
Zweites Problem: Eine Komödie zeichnet sich dadurch aus, dass sie banal und lächerlich im Gegensatz zu ihrem bedrohlichen Anfang endet. Fehlt aber ihre gefährliche und in der Bedrohung ernstgemeinte Ausgangssituation, kann sich keine echte, befreiende Komik entwickeln. Mit fortschreitender Handlung wird klar, dass der Abend nicht das hält, was er verspricht. Ein glaubwürdiger Befreiungskampf aus (soziologischen, klassischen) Zuschreibungen findet kaum statt. Die Pläne von Mutter Sandra (Birgit Berthold), eine eigene Bar aufzubauen und dass das ja alles nicht leicht sei, wird bloß kurz angeschnitten. Schwierigkeiten bei der Suche nach (sexueller) Identität sind in Andeutungen zu erkennen. Ste fällt es anfangs eben nicht so leicht wie Jamie, ihre gegenseitige Anziehung auszuleben, ist beim Küssen der scheue Partner und nur nebenbei erfährt man, dass einer der beiden Jungen in der Schule angegriffen wurde, weil sie zusammen in einer Bar gesehen wurden. Ein doch wohl prägendes Ereignis, dem aber nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Und die versprochenen ständigen Blicke von außen sucht man vergeblich. Als Jamies Mutter über die Homosexualität ihres Sohnes erfährt, regiert sie mit dem augenzwinkernden Kommentar, er könne jetzt „70 minus 1“ machen und ihrem Freund Tony (Andrej von Sallwitz) fällt nichts außer „Das ist doch ok. Das ist doch ok.“ ein. Was dem Abend und seinen Figuren fehlt, ist eine spürbare Schlinge um den Hals, ohne die keine glaubwürdige Befreiung dargestellt werden kann. Man wünscht sich, dass dem jungen Publikum, die Inszenierung wird für die 9. bis 13. Klasse empfohlen, mehr zugetraut wird.
Schaut man über die nicht recht glücken wollende Dosierung zwischen Quatsch und Ernst dieser Inszenierung hinweg, und das tut man gerne, denn das Ensemble schwitzt ordentlich und gibt sichtlich das Beste, kann man vor allem große Freude am sehr sehenswerten und humorvollen Spiel von Claudia Korneev entdecken. Ihre Rolle Leah wird hier als durchgeknallte Nachbarin interpretiert, die immer wieder die Handlung zwischen Ste, Jamie und seiner Mutter durch überdrehte Auftritte unterbricht. Mal steht sie mit CD-Player in der Hand im Publikum und trällert, später kommt sie mit albernem Helm auf dem Kopf auf die Bühne gerannt und knallt gegen Gerüste. Am Ende klettert sie im pinken, pompösen Kleid von oben in die Zuschauer:innentribüne, rennt auf die Bühne und singt völlig berauscht (dargestellt werden soll hier ein Drogentrip Leahs – über den albernen Zugriff auf Drogenkonsum vor einem jungen Publikum lässt sich streiten) „Make Your Own Kind of Music“ in der Mama-Cass-Elliott-Version.
Sing your own kind of song
„You gotta make your own kind of music. Sing your own kind of song. Even if nobody else sings along“, soll die empowernde und befreiende Botschaft dieses Abends sein. Schade, dass die Konflikte des Klassismus und sexueller Normen des Arbeitermilieus der 80er Jahre zwischen viel Show und Komik nur angedeutet werden. Unpassend leicht und nicht ernst genug wirkt dementsprechend die Entfesslung aus ihnen. Keine echte Metamorphose, keine Revolution. Man verlässt diesen Abend mit einer banalen Zusammenfassung: Zwei Typen verlieben sich ineinander, der eine ist entspannter, der andere ist unsicher und aus verständlichen Gründen ängstlich. Am Ende kommen sie aber doch irgendwie zusammen und umschlingen sich, während epische Musik läuft und der neue Freund der Mutter im Hintergrund peinlich mit Blumensträußen in der Hand tanzt.
Ein Publikum, das viel Lust auf Unterhaltung hat und einen kleinen Anstupser in Richtung Diversitätsoffenheit sucht, findet hier eine Geschichte, die sehr simpel und ohne großen Barrieren die Annährung zwei queerer Menschen erzählt und humorvoll zeigt: Egal, wie schlecht deine Ausgangslage aussieht, egal, wie verwirrend alles sein kann, am Ende wird alles gut.