Die besondere Schönheit von Holland
Es ist ein Festival der besonderen Art, eines, das neu ist in einem deutschen Stadttheater. Ein Fest der Inklusion, das alle gleichberechtigt begrüßt, und das sehr gastlich, mit belegten Broten und Pralinen zwischen den Veranstaltungen. Intendantin Barbara Mundel formuliert in ihrer Eröffnungsrede „die Vision eines Stadttheaters für Menschen aller Fähigkeiten als Selbstverständlichkeit“. Und die Aktivistin Natalie Dedreux, die selbst das Down-Syndrom hat, stimmt ihr zu: „Es ist cool, dass hier verschiedene Menschen zusammen kommen und dass es diese Vielfalt gibt.“ Denn: „Wenn es diese Menschen nicht gäbe, wäre diese Welt hier langweilig.“ – Nach diesem ersten Festivalabend, nach drei vollkommen verschiedenen Produktionen, muss man ihr recht geben: Da ist jede Menge Vielfalt, und langweilig ist sie wahrlich nicht!
Horror der anderen Art
Den Anfang hat am Nachmittag eine Eigenproduktion der Kammerspiele gemacht, bei der zwei Schauspieler:innen mit kognitiver Beeinträchtigung die Leitung übernommen haben: Tiziana Pagliaro (Regie und Live-Regie) und Remo Beuggert (Musik und Live-DJ) vom Theater Hora, die im Sommer auch bei den Salzburger Festspielen in „Der kaukasische Kreidekreis“ von Bertolt Brecht zu sehen waren. Sie spielen in „Horror und andere Sachen“ mit Zitaten und äußerst schrägen Reenactments klassischer Horrorfilme wie „Es“ oder „Chucky, die Mörderpuppe“. Das gemischte Ensemble aus Schauspieler:innen mit und ohne Beeinträchtigung grimassiert wie wild, verbiegt und verbeugt sich, windet sich in Stummfilmmanier und schlüpft in die Rollen, die Tiziana Pagliaro ihnen live zuweist: „Frankie, du bist eine Spinne“, ruft sie ihnen zu. „Sebastian, du spielst einen Vampir.“
Mit sichtlicher Freude kreiert sie immer neue abstruse Konstellationen. Dass Katharina Bach sich als Spinne irgendwann selbstständig macht und im Publikum ein Remake der anderen Art verwirklicht, ist dagegen eher nicht im Sinne der Regisseurin – und auch nicht im Sinne der achtsamen Stimmung, die über diesem Festival doch eigentlich schwebt. Dass die Schauspielerin nämlich der Kritiker-Kollegin den Block nicht nur entreißt wie einst Thomas Lawinky es beim FAZ-Kritiker Gerhard Stadelmaier getan hat, sondern diesen auch noch in seine Einzelteile zerlegt und die einzelnen Seiten durchaus effektvoll durchs Publikum fliegen lässt, ist eine Grenzüberschreitung. Schade. Das Finale auf der Bühne dagegen lässt keine Wünsche offen: eine Zombie-Apokalypse vom Feinsten, da wird literweise Blut aus Flaschen verspritzt und Pagliaro feuert ihr Ensemble an: „Leute, das Blut spritzt! Fantastico!“
Einmal alles neu, bitte
Auch wenn das schon mal ein fulminanter Start war, folgt der Höhepunkt, wie es sich gehört, in der Mitte des Abends: Das Berliner RambaZamba-Theater ist zu Gast mit „LÄUFT!“ in der Regie von Leander Haußmann, der 2022 zum ersten Mal an diesem inklusiven Theater inszeniert hat und anscheinend auf den Geschmack gekommen ist. Und dieser Abend ist vielleicht das Kurioseste, was derzeit auf deutschen Bühnen zu sehen ist. Nach einer Triggerwarnung, die anderswo selbst eine solche nötig machen würde, wird doch hier vor den Rollstuhlfahrern auf der Bühne gewarnt, positionieren sich alle möglichen merkwürdigen Gestalten vom schwarzen Schutzengel bis zu einem König auf der Bühne. Aus dem Off ist Altmeister Max Reinhardts „Rede über den Schauspieler“ zu hören: „Deshalb erschaffen wir die ganze Welt noch einmal in der Kunst, mit allen Elementen, und am letzten Schöpfungstage, als Krone der Schöpfung, erschaffen wir den Menschen nach unserem Ebenbilde.“
Und dann geht es richtig los. Gute zwei Stunden lang nehmen Haußmann und sein Ensemble so ziemlich alle Gewissheiten und Regeln des Theaters (und der Welt drumherum) auseinander und setzen ihre Einzelteile zu etwas zusammen, das so definitiv nicht korrekt sein kann, das aber auch überhaupt nicht sein will. Da schraubt sich Jonas Sippel als Dramaturg Rainer Werner mit Fassbinder-Allüren in theatertheoretische Höhenflüge; da spielt Karla Sengteller fulminant alle Karten aus, die sie als Schauspielerin voran bringen könnten von Feminismus bis Liebeswahn; und da gibt Robin Krakowski als allgemeiner Betreuer die eine oder andere Akrobatiknummer am Kaffeeautomaten zum Besten. Hat Samuel Koch einfach zu viel „Method Acting“ gemacht und sich so intensiv in seine Rolle als Rollstuhlfahrer eingefühlt, bis er wirklich einer war?
Das Leben ist keine Reise nach Italien
Haußmann und sein Ensemble begegnen der Welt mit aller nötigen Respektlosigkeit und wagen Perspektivwechsel, die trotz aller Komik nachhallen. Sie spielen mit der vermeintlichen Korrektheit des Theaters, mit der Frage, wer wen spielen darf und wer wen nicht. Was muss echt sein im Theater, was darf gespielt sein? Wenn Karla Sengteller sich liebeswütig auf den hilflos am Boden liegenden Samuel Koch wirft, taucht Franziska Kleinert mit einem T-Shirt mit der Aufschrift „Intimacy-Coach“ auf. Wenn Samuel Koch genug hat, rast er schwindelerregend mit seinem E-Rollstuhl über die Bühne, fährt Möbel um und schleift Robin Krakowski in einem wilden Ritt hinter sich her.
Dieses Ensemble nimmt die Welt wirklich auseinander, wie zu Beginn angekündigt, erschafft sie neu. Ohne Hemmungen, ohne Berührungsängste. Mit viel Humor und Lust am Abwegigen. Aus dem Off singen die Rolling Stones immer wieder ihre lebensweise und schmerzliche Hymne „You can’t always get what you want“. In einem ruhigen Moment erzählt Koch, wie er von einer Reise nach Italien geträumt hat, am Ende aber in Holland landete. Manchmal ist das Leben eben anders als erwartet. Manchmal ist es wie der Traum von einer Reise nach Italien, die in Holland strandet. Aber: „Wenn du dein Leben damit verbringst, darüber zu trauern, dass du nicht in Italien gelandet bist, wirst du nie die ganz eigene besondere Schönheit von Holland genießen werden.“
Mit diesem Satz im Ohr geht’s zum Finale des Abends, der Show von „Drag Syndrome“ aus London, dem weltweit ersten Kollektiv von Drag Queens und Kings mit Trisomie 21. In der Therese-Giehse-Halle liefern die sechs Darsteller:innen mit jeder Menge Grandezza und großen Gesten einen komplett neuen Blick auf Geschlechteridentitäten. Auch wenn die Dramaturgie der aufeinanderfolgenden Einzelnummern ein wenig ermüdet, rundet diese gut gelaunte Performance diesen ersten Festivaltag ab. Verschiedener – oder diverser – als die schon jetzt gezeigten Produktionen, kann Theater kaum sein. Vielleicht ist sie doch nicht ganz so fern, die Vision eines für alles und alle offenen Theaters.