130 Meter Luftlinie entfernt von Münchens vor Geld und Luxus sprühender Maximilianstraße steht die Therese-Giehse-Halle, eine der Spielstätten der Münchner Kammerspiele. Geht man die Treppe hinunter, die in den Schacht zwischen Wohnhaus und Theater führt, steht man direkt vor – und ebenso schnell in Michael Pietschs Puppenwerkstatt. Michael Pietsch ist seit 2020 festes Ensemblemitglied der Münchner Kammerspiele. Genau genommen ist er Schauspieler, Puppenspieler und Puppenbauer. Zu Beginn seiner Tätigkeit kommt oft die Frage auf, was er denn nun eigentlich sei: Puppenbauer, Puppenspieler, Schauspieler? „Das kann gerne irgendjemand definieren, mir ist das vollkommen gleich“, sagt er mittlerweile. „Ich mach‘ einfach meine Arbeit“ – und die beinhaltet eine ganze Menge. Sie ist bunt und vielfältig, von vielen Einflüssen und Perspektiven geprägt.
Die Werkstatt ist Michael Pietschs eigenes gar nicht mal so kleines Reich. Von oben und von der Seite fällt Tageslicht durch große Glasflächen, wie in einen etwas versteckten, aber doch offenen Guckkasten. Hier stehen Werkbank und Schreibtisch, auf den Regalbrettern tummeln sich unzählige aus Holz geschnitzte Köpfe. Hier und da hängen Marionetten aus vergangenen Produktionen. Franz Josef Strauß, Teil der beliebten Inszenierung „Wir Schwarzen müssen zusammenhalten“ blickt von einer Kleiderstange baumelnd durch den Raum. „Schau, der kam von seiner Reise wieder und hat plötzlich geschwitzt.“ Pietsch öffnet Strauß‘ Jackett und deutet auf einen Fleck auf dessen maßgeschneidertem Hemdchen. „Dem muss wohl mal ein Kaffee drübergelaufen sein“, sagt er und lacht.
Die Affinität zum Puppenbau hat er seit seiner Kindheit. Michael Pietsch wächst auf dem Land auf, sein Vater ist Förster. Das Medium Holz ist ihm früh vertraut und immer griffbereit. „Auf dem Dorf mit 200 Menschen um sich herum muss man so ein bisschen selbst für die eigene Unterhaltung sorgen.“ Mit fünf Jahren fängt er also an, Marionetten zu schnitzen und sich für deren komplexe Bewegungsabläufe zu interessieren. Auch er selbst weiß nicht, wie es um seinen Puppenbau gestanden hätte, wäre er in einer Stadt, ohne die ländliche Ruhe und den Platz, dafür mit diversen anderen Freizeitmöglichkeiten großgeworden.
Später studiert er Schauspiel an der HMT „Felix Mendelssohn Bartholdy“ in Leipzig. Dass die Puppen ihn bis heute begleiten, damit hat Michael Pietsch nicht gerechnet. Marionetten im „großen“ Theater, außerhalb eines traditionellen Marionettentheaters, sind auch eher ungewöhnlich. Teilweise lässt Pietsch sie an sechs Meter langen Fäden durch den Bühnenraum spazieren. Und so richtig berührt hat das Puppenspiel zur Studienzeit erstmal niemanden.
Immer wieder arbeitet er an verschiedenen Theatern eng mit Jan-Christoph Gockel zusammen, der mittlerweile Hausregisseur an den Münchner Kammerspielen ist. Einander verbunden sind sie allerdings schon viel länger, mit 18 Jahren inszenieren sie ihre erste gemeinsame Produktion – inklusive Puppen. Nachdem der eine dann in Berlin sein Regie- und der andere in Leipzig sein Schauspielstudium absolviert hat, führen sie ihre Zusammenarbeit fort und integrieren dabei immer wieder Pietschs Puppen – und plötzlich kommt eine Produktion nach der anderen.
Seit 2017 haben ihre gemeinsamen Arbeiten einen ganz offiziellen Namen. peaches&rooster, so heißt ihre Theaterkompanie. Sie vereinen Theater, Puppen, Film und Musik, Dokumentarisches und Poetisches. Politisches Theater nennen Gockel und Pietsch das. „Zu der Zeit, als ich studiert habe, war politisches Theater ein irgendwie grauer, karger Raum, in dem humorfrei verhandelt wurde“, erzählt Pietsch. „Das was wir machen, ist die Auseinandersetzung mit der Welt, aber unter Einbeziehung von Poesie und Emotionen.“ Wichtig sind ihnen auch ihre Reiseprojekte. Denn sie finden, um über die Welt und all ihre Geschehnisse verhandeln zu können, muss man die Dinge mit den eigenen Augen gesehen haben. Sich den Themen mit ihren Widersprüchen und ihrer Komplexität aussetzen. Und das lässt sich in all ihren Arbeiten wiedererkennen.
Gerade finden sich in der Werkstatt noch Überreste seiner Arbeit für „Der Sturm / Das Dämmern der Welt“, die frischeste Produktion von peaches&rooster an den Münchner Kammerspielen – während die nächste in Berlin bereits in den Startlöchern steht. Einfach mal so drauflos schnitzen tut er kaum, denn dafür ist der Aufwand einfach zu groß. „Bis so eine Werkstatt wieder warm ist, dauert es immer ein bisschen“, beschreibt Michael Pietsch. Wenn er anfängt zu schnitzen, dann immer, weil die ersten Ideen und Konzepte für die nächste Produktion entstehen.
Während seines Festengagements am Staatstheater Mainz hat er, so wie jetzt in München, zum ersten Mal eine Puppenwerkstatt im Theater, davor war sie immer bei ihm zuhause. Hier an den Kammerspielen hat das den großen Vorteil, dass alle Theaterwerkstätten im gleichen Haus liegen mit nur wenigen Metern, maximal Stockwerken Distanz zueinander. „Es ist wunderbar, die ganze Infrastruktur von so einem tollen Theater nutzen zu können.“ Pietsch arbeitet eng mit der Schreinerei zusammen, die Schneiderei kümmert sich um die maßgeschneiderten Kostüme und Kostümchen für die Puppen, im Malsaal ist er immer wieder und in der Maske werden Echthaarperücken für die Figuren hergestellt. Wenn er von der sensationellen Arbeit der Werkstätten schwärmt, kann man ihm die Freude am gemeinsamen Ideen-Entwickeln ansehen.
Dass die Puppenaufträge für die Inszenierungen nicht an externe Puppenbauer gegeben werden, sondern die Herstellung immer bei Michael Pietsch selbst liegt, ist ein wichtiges Merkmal der Arbeit von peaches&rooster. „Die Art der Figuren ist immer eng verbunden mit der Idee des Stücks, mit dem Konzept und mit dem Bühnenbild. Das ist Teil von unserem ganz eigenen künstlerischen Prozess.“ Damit einher geht auch die Herausforderung für den Kopf, die Pietsch sieht, wenn er davon spricht, seine verschiedenen Berufe miteinander zu vereinen. „Das Bein muss ich noch fertig machen, das funktioniert nicht, die Farbe ist blöd.“ – Trotz dieser Gedanken, die er als Puppenbauer und Teil des Teams hat, muss er in den Proben die Unbefangenheit behalten, sich vollkommen aufs Spielen einlassen zu können.
Über 300 Puppen sind Pietschs Händen mittlerweile entschlüpft. Wenn er die Schränke öffnet, die ein Stockwerk über seiner Werkstatt stehen, schauen einem zig Puppen in jeglichen Dimensionen und Ausführungen entgegen, alle ihrer ganz eigenen Geschichte entstammend. „Irgendwie schon lustig“, sagt Michael Pietsch, „wenn man sich überlegt, welche Dynamiken und Dialoge hier nachts entstehen.“ So wie Alexander Kluge sich das mit den nachts kommunizierenden Opern vorgestellt hat, so kann man sich hier ausmalen, welch skurrile Verbindungen zwischen Beethoven, Prinzessin Yennenga, Brunhild, dem Daumenlutscher, einer Figur aus Frankenstein entstehen mögen.
So viele Zeugnisse so vieler Welten treffen hier aufeinander. Und das ist besonders, denn wenn im Theater eine Produktion abgespielt wird, gehen die Kostüme im Normalfall zurück in den Fundus, das Bühnenbild wird meistens fast ganz vernichtet. Die Inszenierung löst sich wieder in ihre Einzelteile auf. Aber bei Michael Pietsch ist das anders. Denn die Puppen, die bleiben.