Eins muss ich gleich zu Beginn loswerden: Ich habe „Faust“ nie gelesen. Ja, ich weiß. Ich weiß! Die Scham, die ich gerade empfinde, ist Beweis genug für die Hochachtung, die Goethes Tragödie noch immer entgegengebracht wird. Höchste Zeit, daran zu rütteln.
Die Regeln der „Challenging“-Reihe des Theaters der jungen Welt in Leipzig sind einfach. Jeden Monat nimmt sich Hausautorin Christina Piljavec einen Klassiker der deutschen Literatur vor. In einem stark beschleunigten Schreibprozess und unter Einbezug von Texten aus der Feder von „Klassiker-konfrontierten Schüler:innen“ entsteht etwas, das im Nachgespräch von „Gretchens Faust“ treffend als „Zerhackstückung“ der Vorlage bezeichnet wird. Kurz vor der Aufführung erhält der oder die Spieler:in Piljavecs Text und bringt diesen im Rahmen einer improvisierten Lesung auf die Bühne. Mit von der Partie sind stets ein:e Live-Musiker:in, ein Laufband und ein von dem/der Spieler:in ausgewähltes Requisit.
Das Finale der „Challenging“-Reihe findet an einem wolkenlosen Nachmittag im Mai auf der Probebühne des TDJW statt. Das Publikum an diesem Tag besteht quasi ausschließlich aus Expert:innen: Die anwesenden Schüler:innen haben „Faust“ nicht nur im Deutschunterricht durchexerziert, sondern auch selbst Texte zur Lesung beigesteuert.
Margarete im Mittelpunkt
Die Vorstellung beginnt gleich mit der Katharsis. Auf dem Laufband gehend verliest Darstellerin Anna-Lena Zühlke die Leseeindrücke der anwesenden Schüler:innen zu „Faust“. „Kein Mensch versteht das Gewichse“, heißt es da, und: „Bruder redet um den heißen Brei.“ Goethe sei ein „Hund“ und sein Werk ein „richtiger Scam“ oder auch: „Einfach nur scheiße.“ Der Ton ist gesetzt. Und spätestens jetzt ist allen klar: „Gretchens Faust“ ist nicht der Versuch, literaturverdrossenen Jugendlichen einen Klassiker schmackhaft zu machen. Ganz im Gegenteil: Vielmehr entpuppt sich der Abend gleich zu Beginn als Gruppentherapie-Sitzung für„Faust“-Geplagte.
Das Werk ist also vom Thron gestoßen und mit ihm seine Hauptfigur. Im Mittelpunkt des Abends steht stattdessen Gretchen, äh, Margarete. Denn da fängt die Misogynie ja schon an: Immer diese Verniedlichung! Niedlich will Piljavecs Margarete auf keinen Fall sein. Stattdessen stopft sie sich Polster in BH und Hose und fängt an, zu tindern. Wie von Zauberhand erscheint immer wieder dieser Faust auf ihrem Bildschirm. Widerwillig swipt sie ihn schließlich nach rechts und siehe da – it’s a match! Wer jetzt aber glaubt, eine Neuauflage der Liebesgeschichte zwischen Gretchen und Faust zu sehen zu bekommen, irrt: Letzteren lässt Piljavec nämlich ziemlich zügig zur Nebenfigur verkümmern – ebenso wie Goethe es einst mit seiner Gretchen-Figur getan hat.
Das Club-Date, zu dem sich Margarete und Faust verabreden, dient Christina Piljavec lediglich als Aufhänger für das zentrale Thema des Abends: die Gewalt, der junge Frauen noch immer in Bezug auf ihre Körper ausgesetzt sind. Schmerzhaft eindrücklich beschreibt Piljavec die sexuelle Belästigung, die Margarete im Club erlebt: Eingequetscht zwischen den anderen Gästen spürt sie immer wieder fremde Hände auf ihrem Körper. Margaretes anfängliche Hilflosigkeit und Verzweiflung verwandelt sich im Laufe des Abends in Wut und Gewaltfantasien. Das sonst so harmlose „Gretchen“ bricht aus dem engen Korsett ihrer Figur aus und wehrt sich: gegen ihre Verbannung in den Nebentext, gegen die Aneignung ihres Körpers durch Männer, gegen die eigene Naivität. Und diese Befreiung hat vier Buchstaben: Nein.
„Was für dein Leistungskurz zum Interpretieren“
„Challenging: Gretchens Faust“ fühlt sich die meiste Zeit wie ein literarischer Schleudergang an. Als Zuschauerin kann ich nur schwer beurteilen, welche Texte von Christina Piljavec und welche von den anwesenden Schüler:innen verfasst wurden. Mindestens einmal liege ich falsch und missinterpretiere die Umdichtung von SXTNs Lied „Bongzimmer“ in „Studierzimmer“ als Anbiederung der Autorin an ihr jugendliches Publikum – obwohl die Lyrics tatsächlich von einer Gruppe Schüler:innen stammen. Mein Irrtum zeigt, dass Piljavec, anders als so manch andere:r Autor:in für junges Publikum, sehr wohl den richtigen Ton getroffen hat.
Die einzige Schwäche des Abends liegt in der improvisierten Natur des Formats. Wenngleich Anna-Lena Zühlke Beeindruckendes leistet, indem sie eine knappe Stunde lang mit nicht nachlassendem Elan einen ihr noch weitgehend unbekannten Text vorträgt, wünscht man sich doch immer wieder, sie möge das Skript aus der Hand legen und sich freispielen.
Die Frage, ob „Challenging: Gretchens Faust“ seiner klassischen Vorlage gerecht geworden ist, stelle ich mir nach der Vorstellung übrigens kein einziges Mal. Oder um es in den Worten Jan Böhmermanns aka POL1Z1STENSOHN zu sagen: „Ist das jetzt Kunst oder schlechte Manieren? Ich sag: Das ist was für dein Leistungskurs zum Interpretieren!“