Kritik

„Die jüngste Tochter“ am Theater an der Parkaue

Wenn Menschen in einen Zug steigen, dann tun sie das, um von einem Ort an einen anderen zu kommen. Und die Zeit im Dazwischen, die wird gekonnt überbrückt: mit Ungeduld, Vorfreude, Reiseübelkeit oder guten Unterhaltungen. Aber was ist, wenn das Dazwischen keine Zugfahrt ist, sondern wir selbst? Wenn der Zug immer weiterfährt; wenn sich bei jedem Versuch, das eigene Innere zu kartografieren, die Koordinaten widersprechen?

Premiere: 8. Juni 2024

Foto oben: Sinje Hasheider
Beitrag von: am 10.06.2024

Die Regisseurin Leyla-Claire Rabih eröffnet ihre Inszenierung des autobiografischen Romans „Die jüngste Tochter“ am Theater an der Parkaue mit einer Videoprojektion, die eben dieses Motiv der Zugfahrt als Grundton der Uraufführung festlegt: der flüchtige Blick aus einem Zugfenster, fliegende Häuserfassaden, Gleise. Dann treten nacheinander drei Personen auf. Sie stellen sich jeweils als Fatima Daas vor: eine junge Frau, die als jüngste Tochter einer algerischen Familie in einem Pariser Vorort aufgewachsen ist. Sie ist Muslima und sie ist lesbisch. Für ihre Eltern schließt sich das aus. „Ich heiße Fatima. Ich trage den Namen einer symbolischen Figur des Islam. Ich trage einen Namen, den man ehren muss.“, erklärt sie uns. Immer wieder stellen sich die drei mit ihrem Namen vor. Immer wieder beginnen ihre Sätze mit einem „Ich“. Die Frage ist: Wohin kann uns diese Wiederholung führen? Nach einer Weile merke ich: Diese Worte sind nicht selbstreferenziell, sie sind ein Reibungsfeld. In ihnen liegt Vieles: die Sehnsucht nach Eindeutigkeit; die Hoffnung, in den Sätzen Befreiung zu erfahren; und die leise Ahnung, dass es dafür noch viel mehr Worte braucht.

Bis auf eine schmale Holzbank ist die Bühne leer. Am linken Bühnenrand ist ein kleiner Tisch aufgebaut, von dem aus die Sängerin und Bühnendarstellerin Amy Frega die Inszenierung mit Livemusik begleitet. Ihr zarter Gesang macht vergessen, dass Fatima zwischen den Welten steht. Was bewegt, ist der Augenblick: Wenn Fatima dem Publikum von Nina erzählt, lässt Fregas Musik die Widersprüche in den Hintergrund treten – nimmt uns mit in die ersten Anläufe einer jungen Liebe. Und wenn Fatima bei ihrer Mutter ist, dann erinnert uns der Gesang an die starke Bindung zwischen Mutter und Tochter. Von Szene zu Szene wird deutlicher: Es geht nicht darum sich zu entscheiden; es geht darum, beides zu sein und der Welt davon zu erzählen.

Die Art und Weise, mit der Homa Faghiri, Theresa Henning und Ilona Raytman sich der Dreiteilung dieser Figur nähern, besticht durch ein zentrales Gefühl: Zugewandtheit. In den Widersprüchen, die sich in Fatimas Identität auftun, ließe sich übereilt eine Zerrissenheit vermuten – einzelne Fragmente, Bruchstücke mit scharfen Kanten. Doch das Spiel der drei Darstellerinnen gleicht vielmehr einem Mosaik. Sie hören einander aufmerksam zu. Hin und wieder ist da dieses Schmunzeln – so als würden sie sich gerne gegenseitig sagen: „Keine Sorge, du bist auf einem guten Weg.“ Während auf der Leinwand erneut die Bilder einer Zugfahrt vorbeiziehen, hören wir Homa Faghiris Stimme: „‚sich nähern‘ bedeutet weg zu gehen“. In diesem Satz verdichtet sich von einer Sekunde auf die andere das Kernstück von Fatimas Suche. Es ist die Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz: Wenn Fatima in der Küche ihrer Mutter sitzt, dann ist da diese Fürsorge – eine Wärme und eine tiefe Liebe –, aber da ist auch etwas anderes: ein Schweigen. Denn dafür, dass sie in eine Frau verliebt ist und der Islam trotzdem ein Teil ihres Zuhauses ist, fehlen Fatima noch die Worte. Es sind Worte, um die sie immer wieder ringt. In ihrer Not wendet sie sich an den Imam: „Gott weiß es besser als wir, und wir wissen nichts.“, sagt er. Fatima dankt dem Imam und wäscht ihre Hände mit Palmolive. Sie streicht über ihre Arme, die Finger, das Gesicht. In der rituellen Waschung liegt eine Ruhe, die mit der Zeit in einen Tanz übergeht. Fatima bricht aus der Abfolge der Bewegungen aus und beginnt, sich zu drehen. Der lange Rock fliegt in Wellen durch die Luft. Wie bunte Kreisel drehen sich die Frauen auf der Bühne. Ich beginne, zu verstehen: Hier geht es nicht um Gut oder Böse. Falsch oder richtig. Es geht um eine junge Frau, die Vieles ist; und um ihren Weg in einer Welt, in der sie erst für sich entscheiden muss, dass in dem Dazwischen etwas Gutes liegt.

 

Die Autorin wurde 2001 in Frankfurt am Main geboren. Regie-Hospitanz an der Volksbühne Berlin (2020). Studium der Geschichts- und Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ehrenamtliche Mithilfe in transnationalen Theaterprojekten der KULA Compagnie. 2023 erstmals journalistisch für „Theater der Zeit“ aktiv und freiberuflich als Lektorin für den Verlag. Im Frühling 2024 Teilnahme am Radikal Blog des Theaterfestivals Radikal jung.