Der Dramatiker und Regisseur Falk Richter ist neuer Hausregisseur an den Münchner Kammerspielen. Seit seiner Uraufführungsinszenierung von Elfriede Jelineks „Am Königsweg“ vor drei Jahren arbeitet er stärker außerhalb des eigenen Textuniversums. In seinen eigenen Projekten gelingt ihm zuletzt eine bemerkenswerte Verbindung aus persönlicher Offenheit und gesellschaftlicher Dringlichkeit
Der Artikel ist zuerst in DIE DEUTSCHE BÜHNE 9/2020 erschienen.
Falk Richter kommt aus der Probe zum Covershooting und unserem anschließenden Gespräch, er wirkt anfangs ein wenig erschöpft. Im neuen Team der Münchner Kammerspiele ist er Hausregisseur und probt gerade die Eröffnungspremiere, mit der die Intendanz von Barbara Mundel starten soll. „Touch“ wird kein gepflegtes Sprechtheater, sondern ist ein spartenübergreifendes Projekt. „In ‚Touch‘ setzen wir uns grundlegend damit auseinander, was Berührung für Menschen eigentlich bedeutet.“ Das passt natürlich zur Corona-Situation, als physische und verbale Auseinandersetzung mit dem Thema unserer Gegenwart. Doch bei Falk Richter geht es immer um die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit: „Wenn zwischenmenschliche Berührungen – Umarmungen, das Klopfen auf die Schultern oder der Handschlag – komplett ausbleiben, kommt es zu Schlafstörungen, Unruhezuständen und einer gestauten Aggressivität. Das erleben wir gerade. Menschen brauchen Berührungen, notfalls auch gewaltsame. Bei den letzten Demonstrationen ist es immer wieder zu Zusammenstößen mit der Polizei gekommen.“
Gesellschaftlicher Wandel ist das Grundmotiv in Richters bald 25-jährigem Schaffen. Schon in frühen Stücken wie „Gott ist ein DJ“ (1998) oder „Electronic City“ (2003) hat er Globalisierung, Digitalisierung und ihre Folgen auf das soziale Zusammenleben zugespitzt beschrieben. Falk Richter geht dabei immer aufs Ganze, scheinbar ohne Angst vor Vereinfachungen und Überfrachtungen. Er schießt sich in seinen Dramen fast manisch auf gesellschaftliche Missstände und Feindbilder von Trump bis AfD ein. Darin ähnelt er Elfriede Jelinek, doch wühlt er weniger kunstvoll ambitioniert in der Sprache der Gewalt, vielmehr bleibt er näher an der gesell-
schaftlichen Realität, sucht weniger verschlungene Umwege über antike Motive, sondern beherrscht die Sprache der Jugend und der sozialen Medien. Thematisch und in ihrer Gesellschaftskritik ähneln Richters Werke auch René Polleschs Regiestücken, doch wirken seine Texte und Inszenierungen ernsthafter und verbindlicher.
Falk Richter lässt sich dennoch nicht als Vertreter eines engagierten „Gutmenschentheaters“ abtun, der es sich einfach macht in der Verurteilung der mächtig ungerecht Mächtigen und der plumpen Rechten. Er schreckt nicht davor zurück, durch seine klaren Positionen angreifbar zu werden. Die Inszenierung „Fear“ aus dem Jahr 2015 an der Schaubühne zog den erfolglosen Versuch einer einstweiligen Verfügung von AfD-Seite gegen die Inszenierung nach sich. Die Arbeitsvita Richters spiegelt ungebremste Neugier, Empathie und Sensibilität wider.
Er ist mit der Welt, wie sie ist, nicht einverstanden und will sie unbedingt auf dem Theater bearbeiten. Falk Richter: „Theater ist für mich auch der Ort für Stimmen, die sonst nicht gehört werden können. Es war schon immer ein politischer Raum. Dort reagiert man extremer, emotionaler, durchlässiger, wütender, als wenn man sich zu Hause etwas anguckt. Theater kann immer noch gesellschaftliche Diskussionen auslösen, Missstände sichtbar machen. Die Reaktion der AfD auf mein Stück ,Fear‘ hat die antidemokratische, kunstfeindliche Haltung der Rechtsradikalen konkret sichtbar werden lassen. In der Vorstellung der meisten Zuschauer sollen Theaterräume Gesellschaft repräsentieren. Daher ist die Frage, wer dort oben stehen darf und seine Geschichte erzählen, Gesellschaft refelektieren darf, auch heute noch immer heiß umkämpft. Erleben wir da auch migrantische, queere, jüdische, außereuropäische Sichtweisen und Erzählungen? Wem wird zugehört?“
Schon vor „Touch“ sind zahlreiche Produktionen zusammen mit der Choreographin Anouk van Dijk entstanden. Falk Richter thematisiert nicht nur neue Medien und Krisen des Zusammenlebens, er macht sie für die Bühne produktiv. Vielfältige, spartenübergreifende Mittel wie Videoeinspielungen und Tanz prägen das Theater Falk Richters – und zunehmend auch biographische Spuren der Akteure und des Regisseurs selbst. In seiner Inszenierung „In My Room“, im vergangenen Herbst am Maxim Gorki Theater entstanden, geht er mit seinem Vater und alten Männern insgesamt ins Gericht; dabei ist die Inszenierung eine charmante und zugleich berührende Auseinandersetzung der fünf Darsteller mit ihren – ganz unterschiedlichen – Vätern. Hätte die Corona-Pause „In My Room“ nicht gestoppt, wäre die Inszenierung – mit Einladungen an die Münchner Kammerspiele und zu den Mülheimer Stücken – vermutlich eine herausragende Wegmarke der Saison geworden.
„In My Room“ zeigt ein persönlicheres Theater des Falk Richter als früher. Dabei ist gerade die Stärke der Inszenierung, dass sie keine autobiographischen Befindlichkeiten illustriert oder sich auf das Thema sexuelle Orientierung beschränkt, sondern zugleich gesellschaftliche Strukturen hartnäckig infrage stellt. Falk Richter begründet das für „In My Room“ so: „Es ist offensichtlich, dass wir große gesamtgesellschaftliche Veränderungen brauchen, um die Klimakatastrophe und die völlige Vernichtung des Planeten noch abzuwenden. Es gibt viele wichtige Impulse und Ideen. Die werden aber nicht umgesetzt, weil einige einflussreiche Männer nicht bereit sind, Privilegien aufzugeben, umzudenken und von der Devise ,Ich zuerst‘ und ,Wirtschaftswachstum um jeden Preis‘ abzuweichen. Das war der Ausgangspunkt, um uns mit toxischer Männlichkeit auseinanderzusetzen und zu fragen, wann und wie wird dieses gefährliche toxische Verhalten in der Familie antrainiert und strukturell durch die Gesellschaft unterstützt.“
Bereits die Straßburger Arbeit „Je suis Fassbinder“ von 2016 verbindet autobiographische Motive – Richter war als junger Mann stark von Rainer Werner Fassbinders Filmen fasziniert – mit den Themen Fassbinders, die heute aktueller denn je sind: Hass und Rassismus.
Bei aller Unzufriedenheit bleibt Richter Optimist: „Ich glaube schon, dass das Theater und meine Stücke bei denen, die sie sehen, etwas bewirken, zumindest für deren persönliches Denken. Ein Bewusstsein darüber, was falsch läuft in der Gesellschaft, ist prinzipiell da.“ Und das Theater ist dabei der entscheidende Zugriffspunkt: „Theater ist für mich die Möglichkeit, Gemeinschaft zu erfahren oder zu erschaffen. Und mit der Gesellschaft zu kommunizieren.“
Seit einigen Jahren sind die meisten Stücke Falk Richters eher mit dem Ensemble entwickelte Projekte und somit nur bedingt nachspielbar. Die älteren Werke beeindrucken durch hellsichtige Themenauswahl, sind aber eher Zeitzeugnisse als dauerhafte Dichtung, wiewohl sie in zahlreiche Sprachen übersetzt sind und weltweit gespielt werden. Überzeugender als beispielsweise in seinem Irakkrieg-Drama „Das System“ von 2004 bevölkern nun echte Menschen die Bühne beziehungsweise die Berichte der Darsteller; es handelt sich nicht mehr um Konstruktionen, die die Gesellschaftskritik illustrieren. „I am Europe“ von 2019 steht schon im Titel für die Verbindung aktueller politischer Fragen mit individueller Identität. Auch beim Thema Europa war Richter in seiner Themenwahl weit vorausschauender als viele andere. Seit 2015 arbeitet er regelmäßig am Théâtre National de Strasbourg, mit internationalen Ensembles; die internationale Zusammenarbeit wurde ein Grundthema seines Theaters. Coronabedingt werden solche Arbeiten wohl zunächst zurückstehen müssen: „Projekte wie ‚I am Europe‘ wird es erst mal nicht mehr geben in den nächsten Spielzeiten.“
Für ein anderes Team hat Richter „Welcome to Paradise Lost“ geschrieben; die Uraufführung hätte im März am Staatstheater Kassel stattfinden sollen, nun ist die Premiere für November geplant. Die vom Autor selbst erstellte Opernfassung soll beim Kunstfest Weimar im übernächsten Jahr herauskommen. In dieser Textfläche geht es wieder um alles: Nach dem persischen Mythos von der „Konferenz der Vögel“ blicken hier feige und mutige Vögel von oben auf die Welt, verbunden mit ihnen kommen aber auch flüchtige oder gierige, rücksichtslose und leidende Menschen ins Gespräch. Der Text fragt nach Schwarm und Individuum, nach „komplexen Finanzprodukten“ und der „Gleichgültigkeit“. Noch in diesem Jahr und vor dem Start in München hat Ende August mit „Five Deleted Messages“ noch ein neuer Text von Falk Richter beim Kunstfest Weimar Premiere, ein von Richter inszenierter Monolog im Autotheater.
Falk Richter hat selbst auch Werke anderer Autorinnen und Autoren inszeniert. Besonders geglückt ist dabei – vermutlich ein Meilenstein in seiner Karriere – die Uraufführungsinszenierung von Elfriede Jelineks „Am Königsweg“ 2017 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Das Stück analysiert den irren, damals neuen Herrscher der Weltmacht USA, seine Unterstützer und den hoffnungslos-entspannten Blick der ungehörten Dichterin; es verbindet antike Irrungen von Ödipus und Co. mit den zunehmend weniger vereinigten Staaten. Falk Richter reibt sich konstruktiv mit Jelineks nüchternem Pessimismus (eine freundlich verzagte Ilse Ritter äußert zu Beginn in der Rolle der alten, ausrangierten Beobachterin, eigentlich so gar nicht zu Richter passend: „Jetzt gehen uns auch noch die Worte aus.“). Die sprachliche Überfrachtung überformt er noch mit einem lauten und bunten Bilderreigen. Dabei entsteht ein grandioses Krisenmanifest. „Bescheiden größenwahnsinnig“ habe ich meine Kritik damals überschrieben; das kabarettistische, das Publikum direkt in den Fokus nehmende Zwischenspiel von Idil Baydar bricht das fast opulente Katastrophentableau. Benny Claessens wiederum brilliert als herrschende Diva, der kein Effekt zu plump ist; die ohnehin starke Präsenz dieses Schauspielers gewinnt in dieser Inszenierung noch durch ein faszinierendes Oszillieren von nahezu sympathischer Überheblichkeit mit Angst vor dem Absturz.
Als zweite Inszenierung der ersten Münchner Spielzeit wird Falk Richter Thomas Bernhards „Heldenplatz“ auf die Bühne bringen, mit Edgar Selge in der Rolle der Hauptfigur. Damit kehrt Selge an das Haus zurück, in dem er erste Erfolge erlebte, bevor er zum Fernsehstar wurde und an verschiedenen Häusern mit großen Rollen brillierte. Falk Richter selbst ist inzwischen kein junger Regisseur mehr. Er hat sich seine Neugier und sein Engagement allerdings bewahrt und ist nun mit Anfang 50 als Hausregisseur Teil der Theaterleitung geworden. Seit 2019 ist Falk Richter zudem Professor an der Danish National School of Performing Arts in Kopenhagen. Mit Studenten aus Dänemark will er auch an den Kammerspielen arbeiten – und so dann doch seine internationale Theaterarbeit fortsetzen.
Aus seinen Beschreibungen der aktuellen Proben spricht ein großes Verantwortungsgefühl für das Ensemble: „Einige kommen auch mit dem Kontaktverbot bei den Proben nicht klar, sind frustriert oder traurig angesichts eines Mangels an zwischenmenschlicher Nähe. Ich verstehe sie, versuche sie aufzubauen, die Stimmung zu heben, muss aber gleichzeitig auch auf die Einhaltung dieses Kontaktverbotes achten und es auf der Probe durchsetzen.“ „Touch“ geht von der aktuellen Corona-Krise aus. Beim Italiener an der Maximilianstraße ist von den Einschränkungen wenig zu spüren, in den Kammerspielen, wo unser Treffen beim Covershooting begann, dagegen deutlich: „Wir steuern auf eine widersprüchliche Gesellschaft zu, wo in bestimmten Bereichen die Schutzmaßnahmen sehr locker gesehen werden, im Theater sind sie enorm streng.“
Auch wenn Richter sieht, dass die Krise gesellschaftlich vielleicht die Chance birgt, endlich tiefgreifende Änderungen vorzunehmen: „Wir erarbeiten im Moment lauter Corona-Inszenierungen, die nicht in kompletter Freiheit entstehen. Es gibt eine neue Matrix der Sicherheitsvorschriften, die die Ästhetik des Theaters formen wird.“ Und doch bringt die Corona-Krise auch eine angenehme neue Erfahrung für Falk Richter: „Es entsteht eine gewisse Entspanntheit, weil man jeden Tag davon ausgehen muss, dass sich plötzlich alle Maßnahmen ändern. Man bleibt einfach notgedrungen sehr offen für Veränderungen jeglicher Art.“
Beim Gespräch über seine Motivation fürs Theatermachen ist die Angespanntheit Falk Richters längst gewichen. Er hat noch viel vor in München, einer Stadt, die er bislang kaum kennt – einmal hat er hier im Rahmen der Biennale eine neue Oper inszeniert, und erst einmal wurde hier ein Stück von ihm gezeigt. Beim Fototermin zu Beginn unseres Treffens kommentiert er den Vorschlag des Fotografen, sich auf das Treppengeländer zu lehnen, so humorvoll wie bezeichnend: „Ich hätte normalerweise gar keine Zeit, mich so hinzustellen.“