EMANZIPIERTE STUDIERENDE UND UNWISSENDE LEHRMEISTER*INNEN
Über die Zukunft der klassischen Theaterinstitutionen wird kontrovers diskutiert. Es gibt Kritik hinsichtlich einer vermeintlichen Interessenlosigkeit der etablierten Theater an neuen Formaten, es gibt den Wunsch nach anderer Verwendung öffentlicher Gelder, Kritik an Hierarchien und am Mangel an Diversität. An den Ausbildungsstätten für Theaterschaffende wird um die Zukunft der klassischen Institutionen gerungen. Sieben Fragen zur Zukunft des Theaters an Studierende der HFMT Hamburg und der Universität Hildesheim.
Das Gespräch ist eine gekürzte Version aus dem soeben erschienenen Buch „Struktur und Ereignis“. Dieses Arbeitsbuch erschien anlässlich des 175. Gründungsjubiläums des Deutschen Bühnenvereins.
JULIUS HEINICKE: Sie sind die neue Generation – können Sie sich die klassische Theaterinstitution als Wirkungsstätte vorstellen?
LISA POTTSTOCK: Ich kann mir das klassische Stadttheater schon vorstellen als Wirkungsstätte, sogar die Oper, aber nur unter der Bedingung einer strukturellen, künstlerischen und inhaltlichen Öffnung. Die Aussicht auf die schlecht bezahlte, unsichere Arbeit in der Freien Szene, die häufig einen Nebenjob erfordert, machen diese staatlich behüteteren Orte wieder attraktiv für mich. Unabhängig von dieser finanziellen Perspektive würde ich aber zurzeit die Freie Szene bevorzugen aufgrund ihrer künstlerisch freieren Bedingungen, selbst entscheiden zu können, was wie auf die Bühne kommt. Aber es hängt ja auch dort alles daran, ob beispielsweise experimentelle Stücke Förderung bekommen. Spannend finde ich, dass Kampnagel 2020 viertes Stadttheater beziehungsweise Staatstheater der Stadt Hamburg geworden ist. Dort ist vor allem die künstlerische Ausrichtung bereits viel diverser, politischer, kritischer. Eine Art Hochburg der Freien Szene wird zur klassischen Theaterinstitution – vielleicht ist das der bessere Weg, als die bestehenden Stadttheater umzubauen?
JULIUS HEINICKE: Was gefällt Ihnen? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
KERSTIN OPPERMANN: Das Stadttheater war für mich immer ein mit Bedeutung aufgeladener Ort, wo allein schon der Geruch der Gänge von Garderobe bis Probebühne so ein Gefühl entstehen lässt. Ich stimme Lisa voll und ganz zu, dass es gut sein kann, einen Ort zu haben, der beständig und seltsamerweise für mich eben auch mit so einem vertrauten Gefühl verknüpft ist. Ich kenne die Spielregeln, Codes und Gesten des Theaters und weiß schon im Foyer oder auch an der Pforte genau, worauf ich mich einlasse und was ungefähr auf mich zukommt. Damit ist natürlich leider auch eine gewisse Exklusivität verbunden, die mir wiederum gar nicht gefällt. Wer die Codes nicht kennt, bleibt außen vor und kann meine Vertrautheit sicher nicht nachvollziehen. Deshalb braucht es an dieser Stelle wohl mehr Transparenz und Offenheit, sodass die Spielregeln für alle sichtbar sind und darüber hinaus veränderbar und auch dehnbar bleiben.
JULIUS HEINICKE: Seit einiger Zeit ist viel Bewegung in den Institutionen der Darstellenden Künste. Angefangen mit der Debatte um Rassismus im Theater und auf der Bühne, gefolgt von dem Umgang und der Repräsentation von Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte. Wie nehmen Sie diese Debatten wahr?
MERLIN MÖLDERS: Diese wichtigen Debatten sind am Theater leider auch im Jahr 2021 noch immer am Anfang. Rassismen, erschwerte Zugänge und sozial konstruierte Barrieren sind im Theater noch immer tief strukturell verankert. Zwar können glücklicherweise mittlerweile manche Praktiken, die noch vor kurzem selbstverständlich waren, nicht mehr unreflektiert verwendet werden – wie Blackfacing und Whitewashing –, dennoch sind gerade die Sprechtheaterensembles sehr weit entfernt von einer Repräsentation der Diversität einer postmigrantischen Gesellschaft. Die wenigen Spielenden of Color, die es an die Schauspielschulen und anschließend in Engagements schaffen, müssen sich dann oft auch noch für Besetzungen rechtfertigen und dagegen wehren, als Aushängeschilder für scheinbare Weltoffenheit der weißen Theaterleitung missbraucht zu werden. Dennoch nehme ich gerade im Bereich der Theatervermittlung ein zunehmendes Angebot an eine diverse Zielgruppe wahr. Sei es durch eine exklusive Ansprache wie zum Beispiel bei den POC-Stammtischen des Kollektivs „Amo“ in Braunschweig, oder durch gezielt heterogene Arbeitsgruppen wie bei der Berliner „Akademie der Autodidakten“. Der nächste Schritt muss jetzt sein, Diversität nicht nur im Laienbereich und auch nicht nur in den darstellenden Berufen zu fördern, sondern die ganze Institution Theater gesamtgesellschaftlich zu einem interessanten Schaffensort umzustrukturieren.
JULIUS HEINICKE: Die Theater- und Opernhäuser gehen sehr unterschiedlich mit diesen Themen um. Haben Sie Vorbilder in der Theaterlandschaft, welche sich Ihrer Meinung nach den Herausforderungen in Ihrem Sinne stellen und/oder aber auch Kritik?
REBECCA FISCH: Ich habe zu keinem Haus einen so guten Ein- und Überblick, dass ich hier ganze Institutionen nennen möchte. Allerdings möchte ich die Inszenierung „Roma Armee“ am Gorki Theater hervorheben. Yael Ronen, Sandra und Simonida Selimović, Damian und Delaine Le Bas, alle Darsteller*innen haben meiner Meinung nach ein bewegendes, wichtiges Stück ihrer Selbst und unserer Gesellschaft auf die Bühne gebracht.
JULIUS HEINICKE: Welche Themen bewegen Sie? Werden sie aufgegriffen?
LARA YILMAZ: Für meine eigenen Theaterarbeiten interessiert mich inhaltlich das, was mich in diesem Moment auch gesellschaftlich beziehungsweise politisch beschäftigt – eigentlich immer Themen aus dem Diskurs des intersektionalen Feminismus. Gleichzeitig gehört dabei für mich auch dazu, über Arbeitsweisen und -formen nachzudenken. Deswegen bewegen mich weiterhin die Fragen: Wie funktioniert kollektives, gleichberechtigtes Arbeiten? Wie kann Theater zu einem sinnlichen, inklusiven Erlebnis werden? Dabei stoße ich aber an Grenzen: An der Uni konnte ich mit meinen Kommiliton*innen diese Fragen gut diskutieren, an den Opernhäusern habe ich – vor allem bei meiner Arbeit als Assistentin – bis jetzt wenig bis gar keinen Raum dafür gefunden. Nach und nach sehe ich aber mehr Projekte, die mich Theater so erleben lassen, wie ich es mir wünsche – ein Beispiel war im letzten Jahr „Under Pressure“ von Henrike Iglesias. Im Musiktheaterbereich sehe ich dort aber immer noch sehr wenig Entwicklung in diese Richtung.
JULIUS HEINICKE Wenn Sie Teil einer Leitungsebene im Theater sind: Was würden Sie beibehalten? Was ändern? Welche inhaltlichen Schwerpunkte würden Sie setzen?
MACIEJ ADAM MARZEC: Zum Beispiel ist eine der komplett übersehenen Theaterformen, die ich so gerne mehr sehen würde, Straßentheater. Es ist viel verbreiteter im südeuropäischen Raum, in Deutschland spielt sie aber eine marginalisierte Rolle und hat sehr wenig Sichtbarkeit. Dabei ist Straßentheater demokratisch, zugänglich, lebendig und künstlerisch manchmal sehr innovativ. Straßentheater ist nur ein Beispiel dafür, dass bestimmte Theaterformen sehr wenig Präsenz haben. Es gibt bestimmt noch viele andere, die genau so unsichtbar sind. Dieser Gap wird von der freien Szene und ihre Institutionen teilweise bedeckt – das ist aber gefühlt noch zu wenig. Insbesondere in kleineren Städten ist das Angebot sehr begrenzt. Das wäre mein Programm als Theaterleiter.
JULIUS HEINICKE: Sie haben sich für ein Studium im Kontext von Theater entschieden. Vielleicht können Sie den Satz vervollständigen: Theater ist lebensnotwendig, weil…
KERSTIN OPPERMANN: Ich denke nicht, dass Theater lebensnotwendig ist. Künstlerischer und kultureller Ausdruck und die Freiheit, sich in diesen Bereichen ausleben zu können, bestimmen aber zweifelsfrei die Lebensqualität. Das Theater hat dabei in den letzten Jahrtausenden eine Rolle gespielt und wird sicher die jetzigen Krisen überstehen, um das auch in Zukunft noch zu tun.
MERLIN MÖLDERS: Theater ist lebensnotwendig, weil kulturelle Bildung demokratieerhaltend ist. Gerade in diesem Jahr wurde immer wieder mit Begriffen von Systemrelevanz und Einstufungen von Wichtigkeit verschiedener Institutionen und Berufsfelder jongliert. Kulturinstitutionen sind durch diese Raster leider meist durchgefallen. Ich glaube, hierbei wurde oft unterschätzt, welche erhaltende Relevanz eine freie Kunst als Diskussionsplattform und Impulsgeberin für dieses gesellschaftliche System hat. Auch das Gleichnis des viel zitierten Kinderbuches „Frederick“, der seine Mäusefreund*innen im Winter mit gesammelten Sonnenstrahlen und schönen Worten und Farben wärmt, finde ich an dieser Stelle passend.
REBECCA FISCH: Den Vergleich mit „Frederick“ finde ich super. Theater ist nicht lebensnotwendig im Sinne des Überlebens. Immer wieder und vor allem auch dieses Jahr hinterfrage ich meine gesellschaftliche Rolle. Wäre es nicht sinnvoller, mit den anderen Mäusen Vorräte zu sammeln? Die Fragen nach Systemrelevanz und Notwendigkeit können nicht beantwortet werden, wenn wir nicht aushandeln, wie wir überhaupt leben wollen. Ich möchte nicht in einer vollkommen ökonomisierten Welt leben, in der Einkaufszentren auch zu Pandemiezeiten lange geöffnet bleiben, aber Museen und Theater schließen müssen.
LISA POTTSTOCK: Theater ist lebensnotwendig für mich. Für die anderen kann ich es nicht wissen, weil ich mich dort manchmal vergewissern kann, dass das Wollen von Lebewesen schön sein kann, kreativ, frei, schlau, tragisch, lustvoll, witzig. Ich wüsste nicht, wie man das Verhandeln von Intentionen und Interaktionen zum Beispiel in einem Bild so detailliert darstellt. Auf der Bühne und im Theaterraum, der voll ist mit Erwartungen, Blicken, Projektionsflächen, geht das.
LARA YILMAZ: Theater ist lebenswichtig, weil Theater die Chance bietet, große, gesellschaftliche Diskurse sinnlich erlebbar zu machen. In keiner anderen Form kann ich mich so sehr im Austausch mit anderen auf so vielen verschiedenen Ebenen gleichzeitig in dieser Welt verorten und Dinge hinterfragen oder versuchen zu greifen. Im Theater kann alles sein, und deswegen wird auf einmal alles vorstellbar. Vor allem im letzten Jahr hat mir dieses Fünkchen Utopie in dieser unsicheren Zeit sehr gefehlt.
MACIEJ ADAM MARZEC: Theater ist lebenswichtig, weil es eine Kunst der Präsenz ist. Mit anderen Menschen eine lebendige, leibliche Erfahrung zu machen, ist für mich das Wesen des Theaters. In einer digitalen Welt der Überflutung und Überforderung, wo alle Inhalte und Zeichen sich frei miteinander mischen, ist ein präsenter, sich bewegender und sprechender Körper ein sehr greifbarer Gegenstand.