„Everybody Knows“ von Leonard Cohen singend, sind sich die Performer:innen von She She Pop (Sebastian Bark, Lisa Lucassen, Mieke Matzke, Ilia Papatheodorou) zu Beginn der Vorstellung noch sicher, dass sie die Wirklichkeit kennen. Sie wissen zum Beispiel, dass sie im Theater sind und dass sie nun wirklich nicht erklären können, wie genau die Stimme aus dem Mikrofon zu den Lautsprechern fliegt und von dort aus das Publikum beschallt.
Die Realität verscherbeln
Doch haben wir alle die gleiche Realität? She She Pop bezweifelt das und verabschiedet sich von der Wirklichkeit. Sie wird verramscht. Irgendwo zwischen Auktion und Teleshopping wird erst die Stabilität (die linke Säule der Bühne) verhökert, dann die Echtheit (der Hintern einer Performerin), der beste Sitzplatz des Saals in Reihe 5 (Crowdfunding, damit ihn keiner haben kann!), der rote Faden, der Theaterboden und die eigene Meinung – alles für 4,99 €! Und damit der logische Kurzschluss gelingt, wird das gesammelte Geld für 4,99 € weiterverkauft. Die Verkaufsszenen machen Spaß und im Kontakt mit dem Publikum entstehen die lebendigsten Momente der Vorstellung.
So weit, so gut, wenn auch etwas langatmig. Doch dann wird es unübersichtlich. Die Performer:innen unterhalten sich mit per Video eingeblendeten Tieren: einem Biber oder einer Zecke. Die Tiere weisen darauf hin, dass die Menschen gar nicht die einzige Perspektive auf die Realität innehaben und auch Tiere auf diesem Planeten wohnen, die von der Zerstörung der Erde machtlos betroffen sind. Dann geht es ab in eine neue Welt – eine Utopie. Die Performer:innen ziehen sich Tierkostüme an und es wird düster. Sie tanzen im Kreis und nach mehreren Minuten sind einzelne Satzfetzen wie „everybody knows, neue Worte sind schwer zu finden“ zu hören. Das Publikum wird aufgefordert, Unsicherheiten zuzulassen und mit neuen Worten aufeinander zuzugehen („everybody los!“). Denn aus dieser Realität werden wir nicht herauskommen; stattdessen müssen wir sie verändern.
Auf der Suche nach den 50 Superreichen
Reicht das? Einfach neue Formen der Kommunikation finden? Wieder aufeinander zugehen, statt sich immer weiter zu entfernen? Sicherlich hilft es, wenn es – anders als in den USA – einen groben Konsens gibt, was Wahrheit und Realität ist. Umso schöner wäre es gewesen, wenn „Bullshit“ die gesellschaftlichen Verhältnisse mitdenken würde. Vereinzelt werden sie erwähnt: als Hinweis, dass auch nach dem Ausverkauf die Privilegien im Publikum unverändert verteilt sind. Doch in die künstlerische Schlussfolgerung fließen sie nicht mit ein. Dabei wäre es sinnvoll gewesen, die unterschiedlichen und komplexen Realitäten der Menschen mitzudenken und hervorzuheben. Denn Menschen beeinflussen das Leben der Biber sehr ungleich; hat doch diese Woche der Oxfam-Bericht gezeigt, dass vor allem 50 Superreiche die Erderhitzung befeuern.
„Bullshit“ stellt unter Beweis, warum das Kollektiv seit knapp 30 Jahren Theater zusammen macht. Wenn Sebastian Bark auf einer Hängeleiter knapp unter der Decke steht und feststellt, dass es hier nun wirklich kein Ausweg gibt, zeigt sich, dass She She Pop sein Handwerk eindrucksvoll beherrscht. Es macht Spaß zuzusehen, wie sie versuchen, die Wirklichkeit zu verkaufen; die Unterhaltung mit der neuen Tierwelt ist gewitzt inszeniert. Die Kostüme haben viel Liebe zum Detail und auch die Videoinstallation ist ästhetisch beeindruckend. Doch leider fehlt dem Stück die inhaltliche und dramaturgische Schärfe. So kehrt das Publikum nach langatmigen 100 Minuten dann doch etwas ratlos in seine alltägliche Realität zurück.