Emotionale Aufwallungen
Oper? Nice! Das ist doch dieses klangprogressive Theatergenre für junge Menschen in lässigem Freizeitlook, wo in zeitgenössischer Ästhetik vor allem Themen behandelt werden, die Teenager gerade glühend beschäftigen. So denkt niemand. Das muss sich ändern. Und daher inszeniert beispielsweise David Bösch Kurzopern als „Graphic Novel“, wie er es nennt, für ein nachwachsendes Publikum an der Staatsoper Hamburg. Nach dem triumphalen Genremix aus Film, Comic und eben Oper mit Udo Zimmermanns Werk zum NS-Widerstand, „Die weiße Rose“, widmet er sich nun erneut dem Judenhass des Nationalsozialismus, was angesichts des gerade wieder lauthals in Deutschland propagierten Antisemitismus von trauriger Aktualität ist. Mit „Das Tagebuch der Anne Frank“ in der monodramatischen Musiktheaterfassung von Grigori Frid (1915-2012) kann der Regisseur aber gleichzeitig auch das an Begehren, Nöten und Verwirrungen reiche Frühlingserwachen in der Pubertät fokussieren sowie all die Vorstellungen, Sehnsüchte, Ängste, Hoffnungen und Fantasien, die Jugendliche mit dem Älterwerden verknüpfen. Bösch zeigt, was Oper kann: Emotionale Aufwallungen wie auch seelische Abgründe einer Coming-of-age-Story hörbar machen.
Die Bühne ist ausgelegt und tapeziert mit vergrößerten Seiten des Tagebuchs. Ein Pop-up-Bilderbuch ermöglicht, Annes beengte Handlungsorte im und am Amsterdamer Hinterhaus Prinsengracht Nr. 263 aufzublättern. Videoprojektionen illustrieren oder kommentieren das Geschehen (Ausstattung: Patrick Bannwart und Falko Herold). So marschieren etwa Scherenschnittfiguren mit Hitlergruß durch die Szenen, ein riesiges Hakenkreuz schwingt bedrohlich wie der Klöppel eine Totenglocke. Animationen kommunizieren mit Wochenschaubildern. Auch Texteinblendungen erweitern das Libretto, beispielsweise werden antijüdische Rechtsvorschriften des NS-Staats eingesprochen, um Annes Situation zu verdeutlichen. Manchmal leuchten auch verschwiegene Gedanken der Protagonistin auf.
Sopranistin Olivia Warburton ist ein Glücksfall für die Inszenierung. Sie erinnert mit schwarzer Perücke an die ikonischen Fotos von Anne Frank und bewegt sich schauspielerisch überzeugend zwischen unbeschwert kindlicher Lebensfreude, humorvoller Verträumtheit, vernunftklarer Nachdenklichkeit und heranwachsender Depression. Mit einer Puppe spielt sie auch Vater und Tochter beim Spazierengehen, Kuscheln und Wegdrücken der alltäglichen Schrecken. Ängste um Entdeckung und Erschießung gewinnen bedrückende Präsenz. Bedrohliche Karikaturen von Menschen mit Lupe werden eingeblendet. Die Musik tut ihr Übriges, Gefährdung in Klang zu übersetzen. Annes tänzerisch ins Freie strebende Körpersprache sinkt immer wieder in sich zusammen und der Kopf zwischen die Schultern, als müsse sie sich wegducken vor der patrouillierenden Gestapo. Einmal hält sie sich die Finger wie eine Pistole an die Schläfe und räsoniert, ob es nicht besser wäre, gar nicht als so zu leben. Verloren in der lähmenden Langeweile des gefängnisartigen Alltags. Irgendwann löst sich ein Gebetsschrei an Gott.
Die Regie tröstet und spendiert Anne schöne Erinnerungen in Wort und Bild an die sorglose Schulzeit sowie ein Poster Charlie Chaplins. Freudig imitiert sie den Watschelgang des Stummfilmkomikers und darf in einer discoglitzernden Revuefantasie das von ihm komponierte „Smile“ singen. Schließlich toben noch unbekannte Regungen angesichts der Jungswelt los – Anne schwärmt herzpochend vom mitversteckten Peter. Olivia Warburton singt, als würden Erste-Liebe-Schmetterlinge in ihrem Bauch herumflattern und ein „großes Verlangen“ herbeikitzeln.
Aber die Zeit der NS-Barbarei ist dafür nicht gemacht. Zunehmend prägen Regenprojektionen die Atmosphäre. Mal weint der Himmel Wassertropfen, mal fallen Leichen, Bomben oder rote Farbtupfer als Symbol für die anrückenden russische Soldaten herab, vielleicht auch als Hinweis auf das heutige massenmörderische Treiben Russlands in der Ukraine. Am Ende, nach Annes Verhaftung und Deportation ins KZ Bergen-Belsen, sind es Haare kahlgeschorener Häftlinge, die niedergehen.
Die neun unprätentiös an der Bühnenseite präsenten Musiker spielen unter Volker Kraffts Leitung höchst präzise Grigori Frids expressionistisch düstere Auseinandersetzungen mit Kompositionstechniken des 20. Jahrhunderts, Bösch setzt sie sehr geschickt als rhythmisch aufwühlende Filmmusik ein, so dass Dissonanzen, Reibungen harter Klangkollisionen, lyrische Aufschwünge und 12-Ton-Effekte nicht als hehre Kunstbehauptung ausgestellt sind, sondern als Mittel zum Zweck der Emotionalisierung bestens funktionieren. Wobei sich die suggestiven Bilder- und Klangwelten gegenseitig unter Spannung setzen beim Erkunden von Annes Charakter, aus Sehen und Hören kann ein Mitfühlen und ganz nebenbei der Zugang zu klassisch moderner Musik erleichtert werden. Warburtons singende Erzählkunst ist in der intimen Raumbühnensituation mit geradezu unmittelbarer Intensität zu erleben. Das Publikum lauscht den Worten, kann sie auch dank Übertitelung mitlesen, realisiert die Inhalte und hört gleichzeitig wie daraus in der gesanglichen Intonation die emotionalen Hinter- und Vordergründe mit artikuliert werden. Oper? Nice