Petya Alabozova, Nola Friedrich und Bettina Scheuritzel in „Unser Deutschlandmärchen“ am Theater Aachen

Kritik

„Wo Menschen zusammen kommen …“

Aufzeichnungen aus einer türkischen Gastarbeiterfamilie – wo Fakten von Emotionen geschluckt und der Realität hart ins Auge geblickt werden muss. Regisseurin Antigone Akgün erzählt die Geschichte von Dinçer Güçyeter unter dessen Romantitel „Unser Deutschlandmärchen“ am Theater Aachen.

Foto oben: Thilo Beu
Beitrag von: am 18.01.2025

Dinçer Güçyeter ist in Deutschland als Sohn der Einwanderer Fatma und Yilmaz geboren und weiß sowohl vom zerrissenen Erbe einer türkisch-griechisch-stämmigen Familie als auch von tief individuellen Empfindungen, Schuldgefühlen und Sehnsüchten zu berichten. Furkan Yaprak kommt in einem Rollkragenpulli sanft auf türkisch singend in den Saal, stellt sich zaghaft dem Publikum vor; kündigt an, er würde die Rolle des Dinçer übernehmen. Er bleibt Erzähler der Geschichte, romangetreu – den Abend über wird er vor allem das Verhältnis zwischen ihm und seiner Mutter Fatma (Bettina Scheuritzel) genauer unter die Lupe nehmen.

Szenen einer Familie

„Hanife ist mein Name“, so beginnt der Roman von Güçyeter mit der Geschichte der Großmutter. Wer ist Hanife (Petya Alabozova), die ihre Tochter Fatma nicht in die Fremde nach Deutschland schicken will, mit einem Mann namens Yilmaz (Shehab Fatoum), der einen großen Kopf hat und eine verrückte Geschäftsidee nach der anderen versemmelt? Und wer ist Fatma, die ohne viel Aufhebens mit Yilmaz nach Deutschland geschickt wird, weil die Verheißungen eines Landes, „wo man das Geld von den Bäumen pflücken kann“, schließlich siegen? Ob Fatma wirklich in den Mann verliebt ist, der im nordrhein-westfälischen Nettetal im Stadtteil Lobberich eine Kneipe übernimmt – Buch und Theaterstück lassen es offen.

Akgün formt Charaktere, schneidert ihnen nach den Skizzen des Autors passende Kleider an den Leib. Sie setzt dabei auf Humor: Die verrückte Großmutter, die sich beim Arzt aller Kleider entledigt (ein paar Spitzenteile fliegen durch die Luft), weil sie denkt, dass man den Ärzten in Deutschland auf diese Weise imponieren muss. Der Vater Yilmaz, der mit seiner schusseligen, aber liebenswerten Art mit dem Sohn Fahrrad fahren übt, im strömenden Regen. Und natürlich Dinçer selbst, der mit hochgezogenen Augenbrauen beobachtet und fürs Publikum kommentiert, erklärt. Mit sarkastisch, aber höflichen Einwänden versucht er sich seinen Weg durch ein skeptisches Deutschland zu bahnen. Auf der anderen Seite ist da seine Familie, alle ziehen aus verschiedenen Richtungen an seinen Armen. Zurück bleibt ein oft verwirrtes Kind, das früh viel über das Leben lernt.

Es geht nicht um Mitleid, sondern um (Mit)Empfinden

Der Familie fehlt es an allem: an Geld, an Verständnis, an Geborgenheit. Akgün schont uns nicht vor Gefühlen. Die Regisseurin beschränkt sich nicht auf ein Spiel, das Mitleid wecken soll. Sie appelliert mit ausgesuchten Szenen aus dem Roman an unser Empfinden: das komplizierte Verhältnis zwischen Mutter und Sohn, die Mutter enttäuscht, er soll ein richtiger Mann werden, der Sohn dagegen fühlt sich unverstanden, will Kunst machen. Der Vater, der sich nicht anständig um seine Familie kümmert, nicht gewalttätig, aber eben ein Taugenichts, der nicht mit Geld umgehen kann. Das sind keine fremden Bilder aus einer anderen Welt.

Wunden des Alltags

Natürlich wird das Gefühl der Fremde thematisiert. Ein Kind ärgert Dinçer Tag für Tag aufs Neue in seiner KiTa. Die Erzieherin schaut gekonnt weg, bis Dinçer sich wehrt, da ist das Geschrei groß. Dinçer wird ausgescholten, seine Eltern werden zur Rede gestellt. Solche Szenen, humorvoll auf die Spitze getrieben, behandeln Wunden, die im Alltag oft wieder aufgerissen werden.

Dinçer wird 1979 geboren, seine erste Arbeit beginnt er 86. Kinderarbeit ist seit 1960 in der Bundesrepublik verboten, trotzdem arbeitet Dinçer jede Woche auf dem Feld. Von den ersten Löhnen kauft er seiner Mutter hübsche Schuhe mit Absätzen. Schuhe, die sie nur einmal trägt. Das unter-dem-Pantoffel-der-Mutter-stehen wird mit einer übergroßen Requisite genau dieses Schuhs symbolisiert (Bühne und Kostüm: Sophie Lichtenberg).

Einen düsteren Höhepunkt erreicht das Stück, als es um die Brandanschläge auf von Asylbewerbern und Gastarbeitern bewohnte Mietshäuser geht. Mölln 92, Solingen 93, zuvor gab es in der Türkei einen Militärputsch. Gedankenfetzen werden mit dem Publikum geteilt: Sollte es nirgendwo sicher sein, überall der gleiche Sumpf, die gleichen Zustände? Geschickt spielen die Darstellenden während einer Szene, in der über rechte Wahlkampagnen gesprochen wird, das Publikum an: „Nach 40 Jahren zeigt man uns wieder solche Wahlplakate“. Ein Fingerzeig auf die anstehende Wahl dieses Jahres, den rechten Aufwind.

„Unser Deutschlandmärchen“ nimmt uns alle in die Verantwortung, zeigt uns, was schief gehen kann, wenn Menschen zusammenkommen. Es ist eine echte Geschichte, der wir gerne zuhören, und der wir zuhören sollten. Während Dinçer Güçyeters Roman mit Prosa und Gedichten ins Poetische driftet, greift die Bühnenfassung von Antigone Akgün und Sara Gabor die Bilder humorvoll auf und integriert türkischen Gesang, griechische und syrische Songs. Das Ensemble hat die Gelegenheit, ihre eigenen Erfahrungen mit Migration einzubringen.

Ein schöner Appell zum Schluss: „Glaubt nicht, dass wir keine schöneren Träume hatten, ja, die hatten wir – traut euch, habt keine Angst vorm Leben.“

 

Porträt von Johanna Demory

Johanna Demory © Pauline Demory

Johanna Demory ist 25 Jahre alt und hat Kommunikationswissenschaften an der RWTH Aachen studiert. Sie  interessiert sich für Literatur und Poesie und liest mit großem Eifer Gedichte, Klassiker und Theaterstücke. Egal, wohin unterwegs, es müssen immer mindestens zwei Bücher mitkommen. Neben dem Studium arbeitete sie für die Aachener Zeitung, wo ihre ersten Theaterkritiken erschienen.