In etwa zwei Wochen, am 10. März werden in diesem Jahr erneut die Oscars in Los Angeles vergeben. Ganz vorne dabei mit insgesamt 13 Nominierungen: Welthit „Oppenheimer“ in der Regie von Christopher Nolan. Das Historiendrama über den theoretischen Physiker J. Robert Oppenheimer und „Vater der Atombombe“ stellte bereits 2023 einem großen Publikum die Frage nach der Verantwortung von Politik und Gesellschaft in Bezug auf die Erkenntnisse in der Wissenschaft. Zumindest in der Retroperspektive.
Die Premiere von „Die Physiker“ in der Insel des Jungen Staatstheaters Karlsruhe nimmt die damit verbundenen Gefühle des letzten Jahres sowie die aktuelle politische Lage in der Neuinszenierung von Regisseur Martin Kindervater auf und hebt diese auf eine neue, fast noch bedrohlichere Stufe.
Bedeutsamkeit von Wissenschaft
Die Komödie von Friedrich Dürrenmatt über drei Physiker, die ihr Dasein in einer psychiatrischen Klinik fristen, um ihre wahre Identität zu verschleiern, war selten so aktueller Zündstoff für den Diskurs über die Frage nach der Bedeutsamkeit und dem Bewusstsein von Wissenschaft. Bei den Physikern handelt es sich in Wahrheit um zwei rivalisierende Geheimagenten, die es auf die Forschungsergebnisse über eine sogenannte „Weltformel“ des einzig wahren und dritten Physikers Johann Wilhelm Möbius abgesehen haben. Zu diesem Zweck lassen Sie sich die beiden Spione als psychisch Kranke mit der Wahnvorstellung in die Heilanstalt einweisen, es handle sich bei ihren Personen zum einen um den Gründer der Relativitätstheorie Albert Einstein und zum anderen um den Gravitationsforscher Sir Isaac Newton. Johann Wilhelm Möbius ist sich seiner brisanten Entdeckung der Weltformel und dem Risiko einer damit verbundenen Vernichtung der Menschheit bewusst und versucht diese durch seine angebliche geistige Verwirrung, der König Salomo erschiene ihm, zu verheimlichen. Da die Physiker um ihre jeweiligen Geheimnisse fürchten, ermordet jeder von ihnen eine Krankenschwester, wodurch die Polizei auf den Plan gerufen wird. Letztendlich stellt sich allerdings die Chefärztin Dr. Mathilde von Zahnd als die wahre „Verrückte“ der Geschichte heraus, die die Morde an den Krankenschwestern bewusst eingefädelt und die Manuskripte von Möbius gestohlen hat, um im Auftrag des König Salomo die Weltherrschaft zu erlangen.
In der Inszenierung des Jungen Staatstheaters setzt das Geschehen in einem Kurort Hotel an. Das Bühnenbild mit Relaxsesseln und Bademantel-Kostümierung von Anne Manss sowie idyllischer Waldlandschaft per Videoprojektion von Hanna Green vermitteln Spa-Ambiente. Die Heilanstalt als Wohlfühlort, denn laut Johann Wilhelm Möbius: „Nur im Irrenhaus sind wir noch frei“. Da die Inszenierung mit lediglich fünf Schauspieler:innen für insgesamt zehn zu besetzende Rollen auskommen musste, übernimmt der Einsatz des Videos geschickt fehlende Charaktere wie die Angehörigen der Familie Rose oder das visuelle Eintauchen in die Erzählung des Psalm Salomos des Patienten Möbius.
Nachdem die Physiker nach der Enthüllung der beiden Spione kurz vor Ende einen gemeinsamen Pakt schließen, ihre Geheimnisse gegenseitig zu bewahren, schlüpfen diese interessanterweise erst dann in ihre charakterpassenden Kostümierungen, sprich den für Einstein typischen Wollpulli, die wallende Barockperücke für Newton und die Königskrone für Salomo aka Johann Wilhelm Möbius.
Glänzendes Ensemble
Zudem trägt die Videoprojektion von Hanna Green zum letztendlichen Kniff und vollen Verständnis der Inszenierung von Regisseur Martin Kindervater bei, was zunächst nur sehr subtil im Laufe des Schauspiels eingefädelt wird: Es handelt sich bei der Chefärztin Dr. Mathilde von Zahnd um eine KI. Eine mögliche Bedrohung und damit verbundene noch unerforschte Tragweite durch Künstliche Intelligenz wird damit zum Zentrum der Inszenierung. Eine Macht dessen Auswirkungen wie im Falle des Besitzes der Weltformel nicht abschließend vorauszusehen sind.
Wie geschickt Kindervater mit den wenigen Schausteller:innen umzugehen weiß, zeigt sich auch in der Besetzung des Ensembles. In der Doppelrolle der liebenden Krankenschwester Monika Stettler sowie dem überaus skeptischen Kriminalinspektor Voss glänzt Ensemble Neuzugang Sophie von Grudzinski. Auch Matthias Pieper in der Hauptrolle des „etwas verschlafenen“ Einstein und Kurzauftritten als Oberschwester Marta Boll und Jörg-Lukas Rose überzeugt. Hadeer Hando in der Doppelrolle des Newton und Frau Missionar Lina Rose zeigt sich charmant und einfallsreich. Im Fokus des Ensembles stehen die beiden solo besetzten Rollen der Dr. Mathilde von Zahnd, gespielt von Jeanne-Marie Bertram sowie der von Nico Herzig verkörperte Physiker Johann Wilhelm Möbius. Bertram vermag es die KI-gesteuerte Zahnd durch ihr authentisches Spiel einer unauthentischen Figur zu verstehen. Nico Herzig bezwingt meisterhaft den inneren Zwist von Möbius, sowohl im Liebesspiel mit Schwester Monika als auch in seinem Dasein als Erfinder der begehrten Weltformel.
In einer Zeit, in der in Deutschland über die Frage diskutiert wird, ob die Stationierung nuklearer Waffen im eigenen Land nun doch unabdingbar ist, sich die Fronten zwischen Westen und Osten eher vergrößern als verringern und sich der Angriffskrieg auf die Ukraine zur Premiere der „Physiker“ am Badischen Staatstheater Karlsruhe traurigerweise fast exakt zum zweiten Mal jährt, brauchen wir solche Stücke, um uns auf die Grundfragen zurück zu besinnen: Wie und wofür tragen wir als Gesellschaft Verantwortung?
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Henrike Wagner studierte Musikjournalismus in Karlsruhe. Am liebsten steht sie selbst als Statistin auf der Bühne des Badischen Staatstheaters.