Den Kern getroffen
Nach 24 Jahren steht die Diagnose: Gendefekt. Laufen kann der Bruder nicht und auch die Stimme wird nach und nach versagen. Gemeinsam mit seiner Schwester ist er auf der Suche nach neuen Stimmen. Nicht eine, sondern mehrere: eine für montags, eine verführerische, eine für Standhaftigkeit oder eine, um klug zu erscheinen. Und damit erwähnt er zugleich, dass er natürlich klug sei und nicht zuletzt seine Matura abgeschlossen hat. Mit diesem Kommentar oder anderen gewitzten Entgegnungen, gewinnt Leonard Grobien in der Rolle des Bruders unumwunden das Publikum für sich.
Hinter einer großen Leinwand in blau weißen Farbverlauf, die noch halb aufgerollt und halb schon den Boden der Bühne abdeckt, findet das Spiel der Stimmen statt. Die Puppenspielerin Katharina Halus verkörpert diese Stimmen mittels einer Maske, die kaum mehr als Schemen eines Gesichts zulässt. Zugleich entwickelt sich durch die Übertragung der Stimmen an den Bruder eine große Bildkraft. Das Bühnenbild wird zusätzlich durch mehrere Rampen fast nur durch Schauspieler Grobien befahren, der sich im Rollstuhl über die Bühne bewegt. Technisch hapert es nur an der Videoschaltung der Aufzeichnung des Schauspielers Samuel Koch, der den Experten aus dem Stimmenlabor gibt. Da die Inszenierung sowieso vom Dialog zwischen Schwester und Bruder lebt, hätte diese Videokonversation auch gestrichen werden können.
Im Spiel zwischen Florentine Krafft und Leonard Grobien liegt eine große Vertrautheit, ständig befinden sie sich auf einer Gratwanderung zwischen humorvollem Umgang und bedrückter Stimmung. Mit der Kritik an der fehlenden Sensibilität für Menschen mit Behinderungen schafft es dieses Stück, neben der Dekonstruktion von Stereotypen, auch die vermeintlichen Angsthürden für nicht Betroffene zu durchbrechen. Dies gelingt, als sich die Schwester und Autorin des Stücks eingesteht, dass ihr Text selbst nicht fehlerfrei bezüglich Diskriminierung und sensibler Schreibweise sei. Doch ganz entgegen der Erwartung, dass ihr Bruder ihr jetzt beipflichten würde, bleibt dieser Tadel aus. Viel wichtiger sei es dazuzulernen und bewusst mit seinem Umfeld zu interagieren.
Im Puppenspiel mit Katharina Halus entfaltet sich eine weitere Ebene, in der die vielen Stimmen erzählen, was der Bruder alles sein kann: Feuerwehrmann bis hin zu Astronaut. Und wenn einem dabei selbst ständig die Frage der Unmöglichkeit und Naivität des Bruders in den Sinn kommt, hat Bues und Trockners Inszenierung genau den Kern getroffen. Denn es sind die Muster, in denen die Mehrheit der Gesellschaft denkt und die Umgebung, die sie gestaltet, die diese angebliche Unmöglichkeit kreieren. Letztendlich sind es die Bilder, die es von Behinderung gibt, die behindern.