Kritik

„Draußen vor der Tür“ am Berliner Ensemble

Mit fast eintausend einzelnen Glühbirnen und einer beeindruckenden Kathrin Wehlisch inszeniert Michael Thalheimer das Antikriegsdrama „Draußen vor der Tür“ von Wolfgang Borchert am Berliner Ensemble.
Premiere: 25.03.2022

Foto oben: Matthias Horn
Beitrag von: am 31.03.2022

Keine Antworten in der Glühbirnenwelt

Ausgemergelt, im Krankenhausbett liegend, schreibt der fünfundzwanzigjährige Wolfgang Borchert 1946 in nur acht Tagen das Wahnsinnswerk Draußen vor der Tür. Es geht um den Kriegsrückkehrer Beckmann, der – wie Borchert selbst – aus dem Krieg gegen die Sowjetunion nach Deutschland heimkehrt und nichts außer Hunger, Kälte, Irrsinn, körperlicher Lädierung und einer ihn entstellenden Gasmaskenbrille bei sich hat. Auf der Suche nach Wärme, Essen und Zärtlichkeit humpelt Beckmann von Ort zu Ort und erfährt ein Panorama der deutschen Nachkriegsgesellschaft, dessen Mitglieder die Erfahrung und Schuld des Zweiten Weltkriegs verdrängen und vor allem eins nicht für ihn haben: eine offene Tür. Jetzt steht das Antikriegsstück Draußen vor der Tür in der Regie von Michael Thalheimer auf dem Spielplan des Berliner Ensembles und hatte am 25.03.2022 Premiere – einen Monat und einen Tag nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine.

Hell, laut und aufwühlend

Schon durch das Bühnenbild (Olaf Altmann) wird klar: undeutliches Kriegsgrauen bekommt an diesem Abend eine klare Kontur. Fast eintausend einzelne, lange Glühbirnen hängen von der Decke des Berliner Ensembles. Sie könnten für tausend Tote, tausend schlaflose Nächte oder tausend geschlossene Türen stehen. Beckmann und alle weiteren Figuren, die er auf seinen Stationen durch das Nachkriegsdeutschland trifft, befinden sich fast durchgängig in einem Meer aus Lichtpunkten, die mal Distanz, mal Wärme, mal nahezu Dunkelheit erzeugen können. Ihre unterschiedlichen Farben und veränderbaren Helligkeitsstufen codieren individuelle Stimmungen. Im Gespräch mit der Elbe (Josefin Platt), in der sich Beckmann das Leben nehmen will, färbt sich die Glühbirnenwelt algenhaft grün. Geht er zum feigen Kabarettdirektor (bauchfreier Tilo Nest auf Rollschuhen), der ihm lehrt, er würde sich mit der Wahrheit nur unbeliebt machen, blinken die Lichter lustig kunterbunt wie im Zirkus. Und flackern die Lichter gegen Ende des Abends hell und wild, wird einem ähnlich schwindlig und schlecht wie Beckmann, der immer wahnsinniger wird.

Gespielt wird dieser von Kathrin Wehlisch, die neben Beckmann eine zweite männlich gelesene Rolle verkörpert: den Anderen, derjenige, der stets an Beckmanns Seite geht, der ihn in mehreren Dialogen durch die Nacht treibt und ihn immer wieder vom Suizid abhält. In einem erstaunlichen Umschaltspielt wechselt sie nahtlos zwischen den beiden Rollen hin und her. Zwei Figuren stehen in einem Körper gleichzeitig auf der Bühne. Generell fragt man sich, ob sich die Verlorenheit und der Wahnsinn eines Individuums überzeugender darstellen lassen, als Wehlisch es tut. Ihre maskenhafte Gestik und Mimik wirken stellenweise nicht mehr menschlich, wenn sie, wie so oft, alleine an der vorderen Bühnenkante zum Publikum spricht.

Alle anderen Figuren tauchen jeweils im hinteren Bühnenbereich auf, nähern sich mal hüpfend, mal stampfend dem Beckmann, lachen ihn aus, hören ihm nicht richtig zu, suchen kurz auf verschiedene Weise seinen Körperkontakt, um dann kichernd oder rülpsend wieder nach hinten zu verschwinden und ihn noch geschädigter als zuvor wieder sich selbst zu überlassen. Dieses Prinzip der Interaktion wiederholt sich mehrfach und alle Figuren haben ihren eigenen interessanten Wahn an sich – sei es ein überdimensionaler Rasierschaumbart des Obersts (neben Wehlisch das zweite Highlight der Besetzung: Veit Schubert) oder der fette, vor Übersättigung würgende Tod (Jonathan Kempf). Alles ist intensiv und aufwühlend und dennoch wünscht man sich stellenweise etwas mehr Variation in der Art, wie Figuren auftreten, sich gegenüber positionieren und wieder abgehen. Und vor allem meint man sich ab einem gewissen Punkt eines herbeizusehnen: weniger Lautstärke. Oft wird in Szenen laut nach vorne gesprochen, während im Hintergrund leise, requiemartige Orgelmusik (Musik: Bert Wrede) zu hören ist. Man denkt, ein paar Dezibel weniger und eine Variation der Spielrichtung würde mal guttun, damit Borcherts kraftvolle Worte und Wehlischs berührendes Spiel durch die Überbeschallung nicht an Wirkung verlieren. Aber ja, Draußen vor der Tür ist ein lautes Stück. Die Worte des Dramas schreien das Lesepublikum faktisch an. Der übermüdete, hungernde, wahnsinnige Beckmann befindet sich in einem karussellartigen Dauerzustand der Zumutung und Überanstrengung. Alles ist laut, alles ist hell, wiederholt sich und doch gibt es keine helfenden Stimmen und kein wegweisendes Licht. Das begreift man spätestens, wenn der vollständig zugrunde gerichtete Wehlisch-Beckmann am Ende des Abends fragt: „Warum schweigt ihr denn? Gibt denn keiner eine Antwort?“

Zwischen Freude und Übelkeit

Allein schon der Text von Borcherts Drama führt mit seiner dichten, niederschmetternden Sprache die Lesenden an die Grenze des Erträglichen – diese Linie wird durch das sehr starke Spiel einer Kathrin Wehlisch, den fieberhaften Auftritten des gesamten Ensembles, durch ein herausforderndes Bühnenbild mit wild flackernden Lichtern und Thalheimers detailliertem, mienen- und gestenreichem Inszenierungsstil fortgeführt. Man verlässt diesen gelungenen Abend mit einer kurzen Freude darüber, dass ein beachtlicher Text durch eine stimmige Bühnenrealisierung gehuldigt wird. Was folgt, ist die üble Frage, warum eine fünfundsiebzig Jahre alte Beschreibung über all die Schrecken des Krieges Gültigkeit für das Draußen unserer dicken, westlichen Türen haben muss – sei es in Aleppo, Afghanistan, im Jemen oder in der Ukraine.