Gerade im aktuellen Israel-Palästina-Diskurs herrschen leider oftmals nationaler Hass und die Entmenschlichung der Gegenseite vor. Wer trägt historische Schuld an der aktuellen Lage? Wer sind hier die Opfer? Die Inszenierung „Durch das Schweigen“ am Schlosstheater Celle in Kooperation mit dem Jaffa-Theatre Tel Aviv – inszeniert von Dori Engel und mit sowohl israelischen, palästinensischen und deutschen Schauspielenden und Musizierenden besetzt – hingegen zeigt, wie man jenen Diskurs sinnvoll führen kann, ohne sich dabei auf Simplifizierungen dieser Fragen zu beschränken. Im Stück, das auf dem Roman „Who the Fuck Is Kafka“ von Lizzie Doron und historischen Dokumenten über das Displaced Persons-Camp Bergen-Belsen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs basiert, steht vor allem eins im Vordergrund: Die Menschlichkeit jüdischer und palästinensischer Individuen, die sich eigentlich nur zwei selbstverständliche Dinge wünschen: Sicherheit für die eigenen Freunde und Familien sowie dauerhaften Frieden.
Politische Gegenwart und Vergangenheit als zwei parallele Handlungsstränge
Dabei setzt Dori Engel in einer immer wieder dokumentarisch anmutenden Form gekonnt zwei parallele Handlungsstränge nebeneinander: Da ist die Begegnung von Lilli Schemer und Nadim Abu Hemi in den 2020ern, einer israelischen Schriftstellerin und einem palästinensischen Fotografen und Filmemacher, die in Deutschland als Friedensaktivisten zu Debatten und Interviews eingeladen werden. Neben diesem auf dem Roman von Lizzie Doron basierenden gegenwärtigen Geschehen, werden zugleich viele Szenen aus dem DP-Camp Bergen-Belsen gezeigt, in dem Schemers Mutter Helena als einzige den Holocaust Überlebende ihrer Familie für einige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs lebte und sich der dortigen Theatergruppe, deren Mitglieder in der NS-Zeit bereits in Ghettos und Konzentrationslagern mutig auf der Bühne gestanden hatten, anschloss. Ein Stück lokaler Geschichte, das leider zu sehr in Vergessenheit geraten ist – in einem Diskurs, in dem jüdische Menschen oftmals simplifiziert als Opfer, denen auch die eigenen Geschichten genommen wurden, dargestellt werden. „Durch das Schweigen“ versucht, den Menschen ihre individuellen Geschichten zurückzugeben, sie so aus der Masse der namenlosen Opfer herauszulösen und dabei vor allem die Geschichten der Überlebenden nach 1945 in den Fokus zu stellen. Ein Versuch, der nahbar gelingt.

Möglichkeiten der zwischenmenschlichen Verständigung und Versöhnung
Eindrücklich nutzt Dori Engel Szenen des dokumentarischen Theaters wie die der Podiumsdiskussion mit einem fingierten studentischen Publikum oder eines Interviews mit Lilli und Nadim, die als Zeitzeugen von ihrer individuellen palästinensisch-israelischen Geschichte berichten. Im Kleinen gelingt hier auf der Bühne, was auf Social Media und im öffentlichen Diskurs leider schon meist nicht mehr möglich ist: Beide Figuren nehmen sich als Menschen mit gleichen Anliegen wahr. Was nicht heißt, dass sie anfangs nicht Vorurteile gegeneinander hätten oder nie Wut angesichts der Ignoranz des Anderen empfänden. Doch sie gehen auf die menschlichen Bedürfnisse des Gegenübers ein, zeigen einander Verständnis: wenn Nadim von dem Leid seiner Frau als „Staatenlose“ aus Gaza erzählt, den Zwangsumsiedlungen seiner Familie durch die israelische Armee; und wenn Lilli berichtet, dass ihre Mutter durch ihre Traumata aus dem Holocaust teils so gebrochen war, dass sie diese an ihre Tochter weitergab – etwa, wenn sie verlangte, dass Lilli sich die Haare blond färbe, da „nur blonde Mädchen überleben“ oder die toten Verwandten mit am gedeckten Tisch sitzen. Eine viel zu große Tafel mit nur zwei tatsächlichen Personen, doch es müssen eben alle einen Platz finden, auch die Toten.
Emigration und die Wiedergewinnung der eigenen jiddischen Stimme
Die dreistündige Inszenierung inklusive historischer und musikalischer Einführung hinterlässt trotz einiger weniger Längen am Ende tiefen Eindruck beim Publikum. Dies ist nicht nur den einzelnen ausdrucksstarken Szenen und dem schauspielerischen Können der Darstellenden, sondern auch der Kulisse geschuldet. Am Ende werden die Zuschauenden wie bereits bei der Einführung in das aufgebaute Zelt im Innenhof zum Protest geführt. Denn die „Exodus“, die als Passagierschiff über 4.000 Jüdinnen und Juden aus Deutschland nach Palästina bringen sollte, wird von den Briten zurück nach Hamburg gebracht. Hamburg, zurück auf deutschen Boden, in jenes Land, das ihnen ihre Familien und Freunde gewaltsam nahm. Eine ultimative Demütigung, die die jüdischen Menschen im DP-Camp Bergen-Belsen nicht hinnehmen wollen.
Die jiddischen Lieder der Theatergruppe aus Bergen-Belsen als politisches „Empowerment“ bleiben besonders im Gedächtnis haften: Sie zeigen, dass zwischen unendlichem Leid und menschlicher Hoffnung oft nur wenige Blatt Papier passen. Denn die Hoffnung auf ein besseres Leben von Lillis Mutter war es, die ihre Tochter und Nadim Jahre später in einem Land zusammenbringt, in dem sie sich eigentlich – geht es nach dem politisch vorherrschenden Willen – als verhasste Gegner gegenüberstehen sollten. „Durch das Schweigen“ zeigt, wie schwierig eine Versöhnung in diesem Konflikt ist, dass sie aber – zumindest auf zwischenmenschlicher Ebene – durchaus gelingen kann, wenn Individuen Mut und Offenheit einander gegenüber beweisen. Zugleich ist das Stück eine eindrückliche Warnung, wohin rechtes Gedankengut und die Entmenschlichung Anderer führt. Es ist eine starke Gegenstimme in einem historischen Diskurs über die NS-Zeit, der zwar erinnern und gedenken will, aber dabei zu leicht nur Opfer statt menschliche Individuen sieht.
Lisa Neumann © privat
Lisa Neumann, 1996 in Fritzlar (Nordhessen) geboren, hat Germanistik und Anglistik (Lehramt) in ihrer Wahlheimat Göttingen studiert. Sie liebt Literatur und Theater, schreibt selbst kreativ und liest fast alles, was sie in die Finger bekommt. Für verschiedene Texte wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Zu ihren Veröffentlichungen gehören Kurzgeschichten und -texte wie „Wir Spinner“, „Brausepulver“, „Er“ und „Kralle“. Sie lebt sie in der Nähe von Hannover, schreibt weiter und absolviert ein Volontariat in der Öffentlichkeitsarbeit.