Es war ein Fest! Vom 15. bis 17. Oktober feierte das neu gebaute Münchner Volkstheater seine Eröffnung. Mit drei Inszenierungen, ebenso vielen Partys und jeder Menge bunt gemischter Gäste. Allein, dass München nun ein neues Theater hat, das technisch eines der modernsten überhaupt ist und dabei auch noch wunderschön, wäre Grund genug zum Feiern. Dass dieses Wochenende dank 3G+-Regel aber in Vollbesetzung und ohne Masken stattfinden kann, macht es auch zu einem Fest der allmählich zurückkehrenden Normalität. Sobald die strengen Einlasskontrollen überwunden sind und man sein farbiges Bändchen am Handgelenk hat, steht man maskenlos in der Menge. Erst mal fühlt sich das ein wenig verboten an, dann überwiegt sehr schnell das Gefühl von Befreiung. Wenn man auf einmal wieder zusammen feiert, wird bewusst, was so lange gefehlt hat.
Doch vor der Party kommt das Theater, und das nicht zu knapp. Am Eröffnungsabend zeigt Hausherr Christian Stückl seine Inszenierung von Christopher Marlowes „Edward II.“ in der grellpinken Ausstattung von Stefan Hageneier. Nach der Begrüßung durch Oberbürgermeister Dieter Reiter und Christian Stückl öffnet sich der Vorhang zum ersten Mal, gibt den Blick frei auf das Tableau eines pink gekleideten Hofstaats, aufgestellt um einen leeren Thron, auf dem einsam eine Krone liegt. Der König, er vergnügt sich derweil auf der anderen Seite der Bühne mit seinem Geliebten in einer mit Schaum gefüllten Badewanne. Zwischen diesen beiden Polen der neuen gigantischen Drehbühne nun spielt sich das Drama ab: Pflicht oder Vergnügen? Ehe oder Lust? Verantwortung oder Hedonismus?
Mit Sicherheit gibt es Stücke, die es einem Regisseur einfacher machen, die weniger sperrig sind, die öfter gespielt werden, bekannter sind. Aber Stückl interessiert diese Geschichte aus dem 16. Jahrhundert von einem König, der anders ist, der aneckt und ganz auf die Lust setzt. Und mit Lust sind auch Stückl und sein Ensemble dabei, mit – wie die Badewanne – überschäumender Freude am Spiel, dem neuen Haus und seinen Möglichkeiten. Ein bisschen Bayern bringen sie auch noch rein, indem dieser Edward eine Tolle trägt wie einst der bayerische Märchenkönig Ludwig II. Jan Meeno Jürgens zeigt ihn verspielt, von den Anforderungen der Macht gelangweilt und vielleicht auch überfordert. Am Ende wird Edwards Sohn, sein kindliches Ebenbild, die Sache mit der Macht in die Hand nehmen und die Alten souverän in ihre Schranken weisen. Eine Revolution der Jungen, ein Blick in die Zukunft. Wie immer diese auch werden wird.
Am nächsten Abend weiht Regisseurin Jessica Glause die zweite, mittlere Bühne mit ihrer Ensembleproduktion „Unser Fleisch, unser Blut“ ein. Glause arbeitet gerne mit dokumentarischem Material, um es in spielfreudige Abende zu verwandeln wie zuletzt bei den „Bayerischen Suffragetten“ an den Münchner Kammerspielen. Nun also setzt sie sich mit einem Thema auseinander, das zum einen ohnehin ein Dauerbrenner ist, und das sich zum anderen aus der direkten Nachbarschaft des neuen Theaters im Münchner Schlachthofviertel ergibt: der Fleischproduktion und dem Fleischessen. Sie hat mit allen möglichen Akteuren gesprochen, von der Bäuerin bis zum Metzger, von der Tierärztin bis zum Koch. Ihr Ensemble steckt zunächst unter Tiermasken, jeder hat eine Doppelrolle, ist Tier und Mensch abwechselnd. Jakob Immervoll beispielsweise spielt zum einen den Metzger, Erbe eines traditionsbewussten Familienbetriebs, zum anderen das Schwein, das die Grundlage des Geschäfts bildet. Der Wechsel der Perspektiven ist die große Stärke dieses Abends, der all die Grautöne sichtbar macht, die zwischen Schwarz und Weiß liegen. So verschweigt er weder die Grausamkeiten in Tiertransporten und Schlachthöfen, noch die Scheinheiligkeit der Großstädter, die am Wochenende zur Beruhigung auf den Bauernhof fahren, um sich selbst zu vergewissern, wie „glücklich“ die Tiere sind, die sie nachher essen wollen. Glause lässt keinen Zweifel daran, dass dieses Glück im Moment des gewaltsamen Todes immer ein jähes Ende findet. Ihr geht es aber auch um die sozialen und soziologischen Aspekte des Themas: Traditionelle Handwerksbetriebe verschwinden aus der Großstadt, das Fleisch kommt aus dem Supermarkt statt aus der kleinen Metzgerei. Die Leute ziehen ins hippe Schlachthofviertel, der Schlachthof aber soll bitte weg. Glause zeigt strukturelle Zusammenhänge auf, Veränderungen, die womöglich nicht umkehrbar sind. Es gelingt ihr, das ohne erhobenen Zeigefinger zu tun. Man muss kein Veganer werden nach diesem Abend, ein paar Fragen aber wird sich wohl jeder stellen müssen.
Nach zwei Abenden und zwei Partys folgt am Sonntag noch mal ein Knaller: Bonn Park bringt „Gymnasium“ auf die große Bühne, eine sogenannte „Highschool-Oper“, die er mit Ben Roessler geschrieben hat und die den neuen Orchestergraben einweiht, in dem Akademisten der Münchner Philharmoniker sitzen. Park spielt mit den gängigen Klischees, die man aus entsprechenden Filmen und Serien kennt. Da tummeln sich die Nerds, die Sportler, die fiesen Mädchen und: die Neue. Es gibt Cheerleader, Sportstunden, Kantinenessen und – natürlich! – am Ende einen Abschlussball. Doch Bonn Park wäre nicht Bonn Park, wenn er es dabei beließe: Er ordnet die Elemente neu an, am Fuße eines gigantischen Vulkans, der über allem dräut und mächtige Aschewolken ausspeit, die diese Welt düster machen. Eine Vulkanforscherin vertritt die Wissenschaft, die in harschem Gegensatz zur Schulwelt da unten steht, in der als Wahrheit gilt, was an die Toilettentür geschrieben ist. Wissenschaft versus Meinung, die Highschool als Miniatur-Abbild der Gesellschaft. Leonie Falke hat das Ensemble in wunderbar übertriebene Kostüme gesteckt, die Bühne von Jana Wassong bringt zusammen, was nicht zusammen gehört, aber doch trefflich zu einander passt. Irgendwann in der Mitte hängt der Abend mal ein wenig durch, aber geschenkt: Das alles ist zu bunt, zu schräg, zu durchgeknallt, um kleinlich werden zu wollen. Forget Netflix. Das hier ist besser als jede Highschool-Serie.
Nach dieser dritten Premiere will man eigentlich nur eines: mehr davon! Mit diesem ersten Wochenende hat sich das neue Volkstheater in der Stadt etabliert. Es hat die enorme Bandbreite von all dem gezeigt, was „Volkstheater“ sein kann. Und das Volk, das sich zu diesem ersten Wochenende in seinem neuen Theater einfand, war jung, bunt und extrem gut gelaunt. Dieses Publikum ist nicht zufällig hier. Intendant Christian Stückl hat es über Jahre in sein Theater eingeladen, es willkommen geheißen. Bei ihm bekamen Studierende und Schüler nicht die Restkarten, sondern konnten mit Abos kontinuierlich dabei sein, die schon im Namen verrieten, worum es ihm ging: „Jung ganz vorn“. Der Erfolg dieses Theaters, das Schillern und das Glück dieses Wochenendes sind das Ergebnis von fast 20 Jahren Arbeit. War der Name „Volkstheater“ zu Beginn seiner Intendanz irgendwie wenig greifbar, hatte den Beigeschmack von volkstümelnd und war ganz sicher nicht hipp, steht er heute für ein Theater, dem es mehr als jedem anderen in der Stadt wirklich gelingt, ein Theater für alle zu sein.