20. Oktober 2018. Vor dem Oberammergauer Passionstheater werden die Hauptdarsteller der Passionsspiele 2020 bekannt gegeben. Um es spannend zu machen (und weil das Tradition ist), werden ihre Namen Buchstabe für Buchstabe mit Kreide auf eine riesige Tafel geschrieben. Und neben „Judas“ erscheint da dann auf einmal: Cengiz Görür. Der kann es ebensowenig fassen wie seine Familie und seine Freunde. Cengiz freut sich total. Dass dieser Moment sein ganzes Leben verändern wird, das ahnt der damals 18-Jährige noch nicht.
Zunächst einmal ist er eine Sensation, auf die sich die Presse gerne stürzt: der erste Muslim, der eine Hauptrolle bei dem vielleicht berühmtesten Laienspiel der Welt bekommt. Dass er ausgerechnet den Verräter Judas spielen soll, löst einen kleinen „Shitstorm“ aus, den Cengiz aber nicht verstehen kann: „Jeder in Oberammergau weiß, dass das eine tolle und große Rolle ist. Das kann ich dem Christian auch niemals zurückgeben, dass er mir diese Chance gegeben hat, das ist wirklich was einmaliges.“ Der Christian, das ist Christian Stückl, der die Passionsspiele seit 1990 leitet, der das Spektakel vom Leiden und Sterben Christi seitdem alle 10 Jahre inszeniert.
Zum Zeitpunkt der Verkündung geht Cengiz noch auf die erzbischöfliche St. Irmengard-Fachoberschule in Garmisch. Weil die Rolle so groß ist und die Freude darauf noch größer, beschließt er, von der Schule abzugehen. Um sich ganz auf die Passion konzentrieren zu können. Cengiz ist in Oberammergau geboren, seine Eltern kommen aus der Türkei. Sein Vater kam mit drei Jahren nach Murnau, dann nach Oberammergau. Seine Eltern lernten sich in der Türkei kennen, auf einem Urlaub in der Heimat. In Oberammergau betreibt sein Vater das Hotel Ammergauer Hof. Immer wieder kommen Gäste, die beim Einchecken fragen: „Wo ist denn der Judas?“ Cengiz lacht. Die Passion macht einen auf einmal bekannt im Ort und darüberhinaus. Über Zoom gab er sogar ein Interview in den USA.
Bei der letzten Passion, 2010, spielten er und seine Schwester im Volk mit. „Der Papa hat mich in sein Büro gerufen und gesagt: Schau mal, du hast einen Brief bekommen, du darfst bei den Passionsspielen mitmachen, im Volk und in einem lebenden Bild“, erinnert er sich. Die Kinder in seiner Klasse haben alle darüber geredet. Weil die alle mitgespielt haben, hat Cengiz es auch gemacht. Beim Einzug in Jerusalem, wenn Jesus auf einem Esel hereinreitet, haben sie „Heil dir“ gesungen. Und zwischendurch immer ganz leise und heimlich miteinander geredet, erinnert er sich. Trotzdem: Es war auch stressig, von Mai bis Oktober immer wieder Auftritte zu haben, wenn man doch eigentlich lieber ins Schwimmbad wollte. Es war also nicht sein erster Gedanke, auf jeden Fall wieder mitzumachen.
„Damals hat es sich noch nicht so angefühlt als hätte ich Talent fürs Schauspielen“, erzählt er. Irgendwann wurde er dann von Christian Stückl angesprochen, der im Ort immer Augen und Ohren nach Nachwuchs-Talenten offenhält. Er hat Cengiz zum Vorsprechen eingeladen. 2016 spielte er dann bei den Zwischenspielen in „Kaiser und Galiläa“ mit, 2018 im „Wilhelm Tell“. Und da hat es ihm auf einmal richtig Spaß gemacht, ihn gepackt. Und 2020 sollte er den Judas in der Passion spielen. Doch dann kam Corona. Die Spiele mussten auf 2022 verschoben werden. Und Cengiz „hatte irgendwie gar nichts mehr“.„Bua, was machst denn jetzt?“, fragte Christian Stückl ihn. Und: Ob er sich nicht vorstellen könnte, Schauspiel zu studieren.
Das war im April. Und Cengiz bewarb sich noch kurz vor Bewerbungsschluss an der Münchner Otto-Falckenberg-Schule. Er sprach den Marquis von Posa aus „Don Karlos“, den Benedikt aus „Viel Lärm um Nichts“ und den Wurm aus „Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos“ von Werner Schwab vor. Er kam Runde um Runde weiter, wurde schließlich wirklich angenommen. Als einer von 13. „Als der Anruf von einer unbekannten Nummer kam und es hieß: ‚Geschafft!‘, war ich wirklich in Tränen aufgelöst“, erzählt er. „Das war alles sehr spontan, aber währenddessen habe ich gemerkt, wie sehr ich das will. Das musste dann einfach klappen.“ Im Sommer spielte er dann im Münchner Volkstheater in Christian Stückls Inszenierung von GeorgeTaboris „Die Goldberg-Variationen“. Mit einem professionellen Ensemble zu proben, war schon eine Herausforderung für ihn. Doch er spielte sich frei, zeigte sich souverän in den verschiedensten Rollen von der Schlange im Paradies bis zum „zarten Satansbraten“ Isaak – und überzeugte mit seiner Präsenz neben seinen erfahrenen Kolleg*innen.
Seit ein paar Wochen studiert er nun an der Otto-Falckenberg-Schule, pendelt in der Früh mit dem Zug aus Oberammergau in seine neue Welt, die „noch sehr neu und fremd“ ist. „Wenn man aus einem Dorf mit 5000 Einwohnern nach München kommt, wo so viele Menschen sind, ist das was ganz anderes – eine völlig andere Lebensatmosphäre“, sagt er. Eine aber, die ihm gefällt. Er sucht eine Wohnung, was ja nicht ganz einfach ist in dieser Stadt, geht in die Schule und spielt abends immer wieder im Volkstheater. Gerade erarbeitet er mit seinen neuen Kommilitonen eigene Szenen, seine erste Aufgabe an der OFS: In Zweier- oder Dreiergruppen gehen sie raus, beobachten Menschen und kreieren ihre eigenen Figuren. Im Fundus durften sie sich passende Kleider für ihre Präsentation aussuchen. „Die haben gemeint, dass das der kleine Fundus wäre, aber ich fand den auch schon riesig“, schwärmt er. Sein Leben hat sich komplett verändert seit Oktober 2018. Den Judas wird er aller Voraussicht nach auch 2022 spielen, wenn die Passionsspiele nachgeholt werden. Die Schule jedenfalls hat schon angedeutet, dass man da sicher einen Kompromiss finden wird. Nach all dem Corona-Chaos hat Cengiz also gerade einen Lauf, der erste Eindruck von seinem neuen Leben: „Stark“.