Kritik

Ich mach‘ mir die Welt, wie sie mir gefällt

„Göttersimulation“ an den Münchner Kammerspielen
Uraufführung am 5. November 2022

Foto oben: Armin Smailovic
Beitrag von: am 06.11.2022

Noch nie war die Distanz zwischen den Generationen im Umgang mit dem Neuen so groß wie heute. Die Jugend sei nur physisch präsent, klagen die Alten, und sie habe sich schon gänzlich in virtuelle Parallelwelten verabschiedet. Wie selbstverständlich fliegen die kleinen Finger dieser Generation der sogenannten „Digital Natives“ über die Bildschirme und Tastaturen der Endgeräte. Diese Kinder werden verlernen, die Probleme der realen Welt anzugehen. Es ist das Kopfschütteln und Echauffieren über die verkommene „Jugend von heute“, die der Kultur der analogen Zeit scheinbar nicht schnell genug entkommen kann und sich lieber eine neue Wirklichkeit erschafft.
In ihrer Welt gelten nur die eigenen Regeln – im Computerspiel-Genre „Göttersimulation“ und in Virtual-Reality-Universen ist genau dies möglich. Solch eine Göttersimulation kann man nun in den Münchner Kammerspielen erleben, und das ganz ohne VR-Brille.

Regisseur und Autor Emre Akal bringt den Konflikt der alten und neuen Generation, von analogem und digitalem Zeitalter auf die Bühne und wirft dabei die große elementare Frage der Verantwortung und Schuld über den Zustand unserer Welt auf. Nach Hotel Pink Lulu und Wood Wide Web ist Göttersimulation der dritte Teil einer Quadrologie über die Zukunft unserer Gesellschaft.

In der Simulation herrschen acht Jugendliche aus der Generation der Digital Natives. Sie tragen die Namen sumerischer Gött:innen, wie Ninurta der Donnergott oder Ereschkigal die Göttin der Unterwelt. Dabei handelt es sich um Avatare, die sich nicht so recht einigen können, wer von ihnen in der virtuellen Welt nun das Sagen hat. Zwischenzeitlich tönen die Stimmen der Eltern durch die Kinderzimmertür – die acht Gött:innen kommen jedoch nie aus ihrer parallelen Realität heraus.

Durch die Simulation lassen sich zwei alte weiße Männer treiben, Walter und Erkin. Sie stehen am Ende ihres Lebens und sind auf der Suche nach – das wissen sie selbst nicht so genau. Sinn? Gott? Unsterblichkeit? An die Digitalisierung werden sie sich jedenfalls nicht mehr gewöhnen. Sie begrüßen den Zuschauerraum schon zu Beginn mit einem „Früher war alles besser“-Pamphlet. Und in der Simulation spüren sie, wie sie das Neue überfordert.

Die Handlung umrahmend schildert eine Mutterstimme aus dem Off auf poetische Weise die verloren geglaubten Sinneserfahrungen der analogen Welt: die Weite des Waldes, das Knirschen des Schnees unter den Füßen, den wärmenden Holzofen. Doch diese liegen nun in der Vergangenheit. Den Übergang zur digitalen Zukunft versinnbildlicht ihr Kind, Deniz mit Z. Es steht für eine ganze Generation, von der man sich zunehmend entfremdet.

Das Gefühl einer alternativen Realität schafft vor allem die visuelle Komposition von Bühnen- und Kostümbild, gestaltet von Paula Wellmann, Mehmet & Kazim und Annika Lu Hermann. Dominiert wird die Bühne von einem schwindelerregenden Wechsel an schwebenden und fließenden Videoprojektionen und Animationen. Es entsteht eine Videospiel-Ästhetik, mal in Gestalt einer bonbonfarbigen Idylle, mal in bedrohlich-düsterer Endzeitstimmung. Beeindruckend sind auch die wie animiert aussehenden Kostüme in 3D-Optik, sowohl die fantasievollen bunten Ganzkörperanzüge der Gött:innen als auch die Tennis-Outfits der grauhaarigen Herren. Allgemein entsteht, gleich einer VR-Experience, das Gefühl, dass Gesetze für Zeit und Raum, Schwerkraft oder Endlichkeit nicht mehr gelten.

So spektakulär Bühne und Kostüm wirken, so wenig agieren die Figuren. Die Avatare gehen weniger als individuelle Charaktere hervor, sondern verschmelzen meist zu einem Chorkörper, der kommentiert, infrage stellt und anklagt. Gespielt werden sie von acht Münchner Jugendlichen zwischen 11 und 18 Jahren. Dies erzeugt die nötige Authentizität für das Statement des Stücks, dass gerade sie die Generation der Zukunft sind. Durch Maske und Kostüm sind sie allerdings so verfremdet, dass eine emotionale Nähe zu den Zuschauenden erschwert wird.
Walter und Erkin dagegen stehen für die gebrechliche Passivität der alten Generation, die sich – weil am Ende ihres Lebens – jeglicher Verantwortung entzieht und es sich damit natürlich zu bequem macht. Walter Hess und Erkin Akal verkörpern ihre Rollen mit einer gewissen Selbstironie und Leichtigkeit, die das Stück für das Publikum zugänglich macht.

Die dystopische Stimmung bleibt bis zuletzt. Der Generationenkonflikt mündet nicht in ein Happy-End. Nur in einer Szene kommt es zum Dialog zwischen Jung und Alt, indem die elfjährige Göttin Ninegal die beiden Senioren mit einer Kette an „Und warum…?“-Fragen konfrontiert und Walter und Erkin Antworten dafür finden müssen, warum Menschen eigentlich töten und warum es Atombomben gibt. Doch auf „Kannst du mir sagen, dass alles gut wird mit der echten Welt?“ folgt nur bedrückende Stille.
Momente wie diese gehen unter die Haut und an ebensolche erinnert man sich nach diesem Theaterabend. Vielleicht lebt es sich in der virtuellen Realität doch leichter, weil das echte Leben nicht mehr zu ertragen ist? Die Orientierungs- und Hoffnungslosigkeit bleibt bestehen; die neue Generation bekommt keinen Trost, die alte keine Erlösung.

Göttersimulation ist kein klassisches Theater und zeichnet sich nicht durch eine stringente Handlung aus. Vielmehr steht die rasche Abfolge einzelner virtueller experiences, Orte und Themen für die geringe Aufmerksamkeitsspanne der Generation TikTok. Wer sich hierauf einlässt, erhält Einblick in eine digitale Zukunft, die irgendwo zwischen Utopie und Dystopie liegt.