Kritik

„Imperium der Illusionen“ am Theater Münster

Erschaffen wir uns nicht alle ein Imperium an Illusionen? Hauptfigur Lia der Uraufführung von „Imperium der Illusionen“ führt diese Frage und das System ad absurdum und schlüpft als Hochstaplerin in alle Rollen, die sie will. Helena Cánovas Parés übersetzt die Handlung in einen spannenden musikalischen Mix von Alltagsgeräusch bis Operngesang, den Clara Kalus am Theater Münster inszeniert.

Foto oben: Sinje Hasheider
Beitrag von: am 19.02.2024

Is „Delulu the Solulu“? Ist Illusion die Lösung?

„Herzlich willkommen du, du und du, ja auch du.“ Zwischen transparenten Leinwandelementen versteckt, sprechen die Mitglieder des „Club House Arrest“ mich direkt an. Es ist dunkel, Videoanimationen von Gittern ziehen vorbei und ein Verwirrspiel beginnt: „Ich könnte eine Dragqueen sein. Ich könnte deine Nachbarin sein“, sprechen die fünf Ensemblemitglieder wie eine Person. Wahrheit, Illusion und Täuschung stehen an diesem Abend im Vordergrund, das wird visuell und textlich direkt in der ersten Szene deutlich. Doch wer spricht da eigentlich? Das ist Lia (Soraya Abtahi). Die 17-Jährige wechselt ihre Namen, Alter und Beruf wie T-Shirts und tut das, was sie will. Schließlich hatte sie bei der Berufsberatung doch den Rat bekommen, ihr volles Potenzial zu entfalten. Also träumt Lia groß. Nimmt sich, worauf sie Lust hat und faked, was das Zeug hält. In Helena Cánovas Parés‘ humorvoller, knapp zweistündiger Oper erlebt das Publikum den Werdegang der jungen Hochstaplerin mit, während diese auf ihrer Reise existenzielle Fragen anstößt: Wer bist du eigentlich ohne die Geschichte, die du über dich erzählst und „deine“ nennst? Und ist diese Geschichte an sich nicht immer schon eine Illusion?

#Morningroutine

Die Oper beginnt wie ein typischer Morgen der meisten von uns: Anziehen, Zähneputzen, Frühstücken, Handy checken. Regisseurin Clara Kalus choreografiert eine Morgenroutine. Das Sinfonieorchester Münster verschwindet dabei nicht hinter einer Wand oder gar im Orchestergraben, sondern bildet einen lebhaften musikalischen Bühnenhorizont. Durch die transparente Leinwand hinweg erklingt die Musik des Orchesters mit imitierten Klingeltönen und bildet so eine spannende Klangfläche aus Alltagsgeräuschen. Das fünfköpfige Ensemble aus zwei Schauspielerinnen und drei Opernsänger:innen mixt Gesangspartien, Rezitative und Sprechteile. Auf diese Weise entsteht eine erfrischende Interaktion, bei der die Kunstformen Schauspiel und klassischer Operngesang ganz natürlich ineinanderfließen. So zum Beispiel, als die clowneske Berufsberaterin (Amelie Barth) Lia für den Arbeitsmarkt begeistern will und ihre Mitarbeiter:innen (Bariton Ramon Karolan und Sopranistin Yeaseul Angela Park) in klagendenden Gesangsphrasen antworten. Kontrastierend zum traditionellen Operngesang spielt das Orchester einen der bekanntesten YouTube-Hintergrundsongs der letzten Jahre – kitschig und wahnsinnig lustig, zugleich.

bunt, extrovertiert, rasant

Lia beginnt ihren ersten Praktikumstag beim Lifestylemagazin „Noch schöner Leben“. Das in pinke Arbeitskluft gehüllte Redaktionsteam gibt ihr sogleich die Gepflogenheiten des Hauses zu verstehen und vermittelt ihr ebenso schnell die Botschaft, dass sie noch nicht komplett zum Team gehört. In cinematischer „Coming of Age-Manier“ saugt Lia die Verhaltenscodes ihres sozialen Umfelds in Blitzgeschwindigkeit auf und handelt getreu dem Motto: „fake it till you make it.“

Lia lässt Utopien entstehen

Eine Lüge, um sich interessant zu machen, eine, um als glamouröse Influencerin am Strand zu verweilen und noch ein paar weitere, um sich als Psychologin auszugeben. Soraya Abtahi spielt die Hochstaplerin in ihren vielen Facetten vom It-Girl bis zur geheimnisvollen Intellektuellen lebhaft und energiegeladen. Allerdings geht es noch um viel mehr als den Ruhm. Lia schlürft Austern am Pool und lauscht den Worten ihrer Bekannten von Charly Wohlleben (Amelie Barth). Im gleißenden (Bühnen-)Licht der Erleuchtung und einem ikonisch wirkenden Heiligenschein auf dem Kopf spricht Charly ihre eigene Wahrheit aus, nämlich, dass nichts von ihr bleiben wird, wenn sie einmal stirbt. Nichts als Illusionen. Es sind bildstarke Szenen wie diese, die hervortreten und sich durch den plötzlichen Stimmungswechsel ins Abstrakte und beinahe Philosophische abheben. Die doppelgleisige Anlage des Stücks als Abenteuerreise und Kontemplation über menschliches Sein funktioniert, da sich die opulente Ästhetik der Inszenierung nun auflöst und einem reduzierten Bild weicht. Ziemlich spät entwickelt sich eine Liebesgeschichte zwischen Lia, die sich als Ärztin ausgibt und der Laborkraft Liz (Yeaseul Angela Park). Helena Cánovas Parés und Librettistin Carina Sophie Eberle lassen der aufkeimenden Liebe viel Freiraum und schaffen minimalistisch-atmosphärische Klänge zu einem sensibel und lyrisch anmutenden Text. Da kann nicht die Rede von einer theatralischen Liebesszene sein. Stattdessen entfaltet sich langsam eine Begegnung zwischen zwei Menschen, die auch mal nervös sein dürfen und sich gerade kennenlernen.

Lias Festnahme unterbricht die Intimität der Frauen und schlägt einen Bogen zur Startszene: „Herzlich willkommen du, du und du ja auch du“, spricht der Club House Arrest erneut. Diese Konsequenz auf Lias Betrug wirkt milde und kommt ohne ethische Bedenken aus, denn Lias Start-Up „Imperium der Illusionen“ ist geboren. Sie und ihr Team verkaufen jetzt Illusionen und Geschichten. Die Botschaft, die bleibt: Du kannst sein, wer du willst und dich bedenkenlos jederzeit umentscheiden.