„Ich kann soziale Ungerechtigkeit ganz schlecht ertragen“
Als ich dich gefragt habe, ob du Lust hättest, mit mir ein „Woyzeck“-Comic zu machen, warst du begeistert, weil du vor allem die Figur der Marie schon immer spannend fandest. Was interessiert dich an ihr?
Julia Bernhard: Marie ist programmatisch für ganz viele Frauenrollen. An ihr wird deutlich, wie der gesellschaftliche Druck weitergegeben wird und Menschen, die mehr Einfluss haben, immer nach unten treten. Und ganz unten steht diese Frau, die als nicht moralisch integer gelesen wird und die keinem bürgerlichen Frauenbild entspricht. An sie wird der ganze Druck weitergegeben, sie ist das schwächste Glied in der Kette. Marie versucht, sich durch ihr einziges Kapital, ihre Sexualität, eine Form von gesellschaftlichem Aufstieg zu erarbeiten, aber am Ende fällt auch das auf sie zurück.
Sie hat ein uneheliches Kind von Woyzeck, was damals ein großes Problem war und in erster Linie eben ein Problem der Frau. Dabei gibt sich Woyzeck tatsächlich Mühe, zu seiner Verantwortung zu stehen.
Auch Woyzeck entspricht keinem bürgerlichen Männerbild, denn er hat keinen Erfolg. Er wird dem konservativen Rollenbild des Mannes als Versorger nicht gerecht. Dadurch steht auch er unter Druck, und den gibt er am Ende an Marie weiter, weil sie ihm spiegelt, dass er nicht ausreicht.
Wenn du dann die Figuren und Optik entwickelst: Wie gehst du da vor? An was orientierst du dich?
Bei „Woyzeck“ hatte ich große Lust, das ganz klassisch darzustellen, also verortet in der Zeit, in der das Drama spielt, Ende des 19. Jahrhunderts. Ich wollte es nicht modernisieren, weil ich unbedingt diese Kleider zeichnen wollte.
Also hast du recherchiert, was hatten die Leute an in dieser Zeit?
Genau, und das hat mir großen Spaß bereitet. Ich habe mich in die Mode der Zeit reingefuchst und festgestellt, dass die meisten Abbildungen Kleidung zeigen, die sich Woyzeck und Marie gar nicht hätten leisten können. Also habe ich die Schnitte beibehalten, aber die Kleidung insgesamt ärmlicher gestaltet, die ganzen Extras und den Schmuck weggelassen und dafür Löcher eingefügt.
Auch die Farben im Comic sind eher gedeckt…
Mir war wichtig, dass es nicht zu fröhlich und zu lebensbejahend ist, um die bedrückenden Stimmung des Dramas transportieren zu können.
Wann hast du entschieden, Illustratorin und Comic-Zeichnerin zu werden?
Ich habe eine ganz klassische Zeichner:innenbiografie. Ich zeichne, seit ich einen Stift halten kann. Damit war ich schon immer fast krankhaft obsessiv. Meine Lehrer:innen hatten immer einen gewissen Stress mit mir, weil ich mich nicht auf die Schule konzentriert, sondern alles vollgezeichnet habe. Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich das nicht mehr los werde und etwas damit machen muss. Wenn ich nicht zeichnen kann, bin ich unglücklich. Das ist wie eine Sucht. Ich wusste also relativ früh, dass ich zeichnen muss. Aber ich wusste nicht, inwiefern das ein belastbarer Berufswunsch ist. Meine Mutter hat mir nahegelegt, erstmal eine Ausbildung zu machen, also habe ich nach dem Abitur im Schnellverfahren eine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin gemacht. Anschließend habe ich mich an der Hochschule Mainz beworben und dort im Bachelor und Master Kommunikationsdesign studiert.
Wie hast du das Studium erlebt?
Mein erster Illustrationskurs bei einem Vertretungsprofessor lief eher mittelmäßig. Danach habe ich mich während meines Bachelorstudiums auf Typografie und Buchgestaltung konzentriert. Gegen Ende des Bachelorstudiums landete ich zum Glück bei Monika Aichele. Bei ihr habe ich wieder die Freude am Zeichnen entdeckt und gemerkt, dass ich nichts anderes mehr machen will.
Wie bist du dann zum Comiczeichnen gekommen?
Ich konnte mich nicht zwischen Zeichnen und Schreiben entscheiden. Und so bin ich irgendwie beim Comic rausgekommen.
Was für Stoffe interessieren dich für deine Arbeit?
Meistens finden die Sachen mich von alleine. Worüber ich schreibe oder Comics mache, ist meist das, worüber ich mich privat am meisten aufrege. Ich kann soziale Ungerechtigkeit ganz schlecht ertragen. Das Zeichnen und Schreiben ist eine Art therapeutische Verarbeitung für mich: Ich setze mich hin und analysiere, was daran macht mich so wütend? Wie sind die gesellschaftlichen Prozesse dahinter? Wer profitiert davon? Etwas ganz genau zu betrachten, hilft mir, es zu verarbeiten.
Was magst du am meisten an deinem Beruf?
Dass ich zeichnen darf. Also: dass ich dafür bezahlt werde, das zu machen, was ich am meisten liebe. Und toll ist natürlich auch, dass ich spät aufstehen kann. Das frühe Aufstehen war für mich ganz hart, als ich in Werbeagenturen gearbeitet habe. Das hat meinem Biorhythmus so gar nicht entsprochen. Und untertags einkaufen gehen, ist auch super.
Und was magst du am wenigsten daran?
Dass es überhaupt nicht kalkulierbar ist. Es gibt keine zuverlässigen Auftragsstrukturen. Ich bin sehr abhängig von der gesamten ökonomischen Entwicklung. Im Kulturbereich und bei Illustrationen wird immer als erstes gespart. Das kann frustrierend sein. Und wenn man eine Person ist, die ein großes Sicherheitsbedürfnis hat, kann das sehr belastend sein. Es gibt Hochphasen und dann wieder Zeiten, wo fast nichts ist. Das muss man wegatmen können.
Fällt es dir leichter als am Anfang, in solchen Phasen ruhig zu bleiben?
Ich mache das jetzt seit neun Jahren. Und ich hatte eigentlich das Gefühl, ich kann immer besser damit umgehen. Es gibt Wellenbewegungen, die fast jedes Jahr gleich sind. Aber ich und auch viele andere Kolleg:innen merken, dass es härter wird. Ich weiß nicht, ob es an der KI liegt oder an der wirtschaftlichen Entwicklung, aber ich habe dieses Jahr einige Kolleg:innen ihren Beruf an den Nagel hängen sehen, weil sie auf einmal nicht mehr davon leben konnten. Das ist gerade arg bedrückend.
Glaubst du, dass Kunst etwas bewegen kann in der Gesellschaft?
Ich würde es mir so sehr wünschen, aber ich fürchte, die Kunst bleibt meistens in ihrer Bubble. Auch sind wir, glaube ich, gesamtgesellschaftlich nicht mehr unbedingt offen und zugänglich für Argumente von anderen weil wir durch Social Media so an das Dasein in Echokammern gewöhnt sind. Manchmal bekomme ich aber Rückmeldungen, die mich sehr freuen. Dann sehe ich, dass ich nicht ins Leere reinrufe, sondern es Leute gibt, die meine Comics lesen – und das etwas macht mit ihnen. Das freut mich sehr.
Ich habe dich für „Woyzeck“ angefragt, weil ich die Graphic Novel über Simone de Beauvoir, die du mit Julia Korbik gemacht hast, so spannend fand und dachte, dein Stil könnte zur Jungen Bühne passen. Dass du dich auch so fürs Theater begeisterst, wusste ich nicht. Woher kommt deine Liebe zum Theater?
Als Kind bin ich mit meiner Mutter ins Kindertheater gegangen, aber irgendwann ist das abgerissen. Dann habe ich angefangen, in Mainz zu studieren. Das Mainzer Staatstheater hatte eine Angebot, das man nicht ablehnen konnte: Als Student:in konnte man sich dort drei Tage vor der Vorstellung umsonst die Restkarten holen. Das war für mich der Wahnsinn. Ich saß dann drei, vier Mal die Woche im Theater; im Schauspiel, Ballett und in der Oper. Manche Inszenierungen habe ich mir vier, fünf, sechs Mal angeguckt. Ich habe mir einfach alles reingepfiffen, wofür ich Karten kriegen konnte. Und das Tolle war: Die Restkarten waren meist für die erste Reihe.
Das klingt nach einem echt tollen und wirksamen Konzept, junge Leute ins Theater zu holen.
Eigentlich sollten das alle Theater so machen! Wenn man sich erstmal daran gewöhnt hat, ins Theater zu gehen und das als Kunstform zu schätzen gelernt hat, macht man das später auch weiter. Das funktioniert wirklich.
Was hat dich zuletzt beeindruckt im Theater?
Das war an der Schaubühne „Beyond Caring“ von Alexander Zeldin. Es geht um eine Gruppe von Menschen, die als Zeitarbeiter:innen in einem Schlachtbetrieb abends die Maschinen säubern. Das war extrem berührend und unglaublich toll gespielt. Da zeigt jemand die Lebensrealität von Menschen, die von unserer Leistungsgesellschaft aussortiert worden sind, und gibt ihnen eine Form von Würde zurück. Das war ein wirklich tolles Stück.