Im dämmrigen Licht werden die zwei Königskinder wie Marionetten in Reifrock und Korsett gesteckt, welche wie Gestelle skeletthaft unbedeckt bleiben (Bühne und Kostüm: Jana Findeklee und Joki Tewes). In mechanischen Bewegungen werden sie einander zugeführt. Bis Lena erwacht und die Statik des Prologs jäh unterbrochen wird.
Leonce und Lena gibt es einfach, zweifach, dreifach … fünfzehnfach. Viele Varianten des „Ich“ also, die von dem 15-köpfigen Düsseldorfer Ensemble aus 9-24-Jährigen mal als Individuum, mal als Kollektiv auftreten und ausgespielt werden. Wie eine Armee steht die Gruppe als Leonce vor dem Publikum und zeigt ihm ganz genau, was sie von Forderungen der „Erwachsenen“ und König Peter (Hartmut Misgeld) halten. Heiraten? Auf den Beruf vorbereiten? Davon halten sie gar nichts. Denn was ist so verkehrt am Müßiggang? Unbestritten hat die Beschäftigung mit ihm wohl die Spielfreude innerhalb des Ensembles beflügelt. Das dynamische Spiel der jungen Schauspieler:innen durchbricht regelmäßig die vierte Wand und arbeitet sich an Machtverhältnissen und Problemen des Erwachsenwerdens ab. Die Darsteller:innen denken nach, philosophieren, spinnen rum, rebellieren oder bekommen auch mal einen Tobsuchtsanfall, weil der Verschluss des Kleids klemmt.
„Aaaaaahhh, ich hasse dieses Kleid! Kann mir mal jemand mit dem Reißverschluss helfen? Bitte!“ Bei Szenen wie dieser mit der 11-jährigen Lucie von Chamier bekommt Büchners literarische Vorlage eine saftige Ladung Leben eingehaucht. Nicht nur, weil sie in heutige Jugendsprache eingebettet ist, sondern auch, weil sie empathisch und authentisch ankommt.
Auch die wenigen Individualrollen Rosetta, Valerio, ein Diener und König Peter, die Regisseurin Nora Schlocker ab und zu für sich stehen lässt, sind konturenreich gestaltet und sorgen vor allem in Kombination aus dem unsicheren, unterwürfigen Diener und schusselig-vergesslichen König Peter für witzige Szenen, in denen man die komödiantischen Elemente Büchners Werk herausgearbeitet hat.
Die Bühne ist mit einem großen hochfahrbaren Netz karg und wenig realistisch gestaltet. Ähnlich eines Trampolins bilden die nachgiebigen Maschen einen perfekten Boden zum Hüpfen, Hinschmeißen und Mitschwingen, der bei den Provokationen des jungen Hofstaats in Reaktion auf die Forderungen des (alten) Königs zum Einsatz kommt. Aber nie den Blick zu lange nach unten richten, denn durch die weiten Maschen wirkt auch der Abgrund so nah und bekommt im Sinne adoleszenten Erprobens sowie Weltschmerzes aufgrund globaler Krisen auch eine metaphorische Bedeutung.
Über allem schwebt der große silberne Mond – eine romantische Projektionsfläche für einen besseren Ort, der samt des Texts „Meine Welt“ von Ensemblemitglied Elias Salman Dast Mozeh mit zur Inszenierung gehört. Inmitten von Büchners Worten aus dem Drehbuch träumt der 24-Jährige in seinen ganz eigenen von einer freien Welt ohne Diskriminierung oder Krieg und stellt fest: „Wir Menschen haben noch nicht geschafft, dorthin zu reisen“, woraufhin er im nächsten Moment an einem Seil dem Mond entgegenschwebt. Ein romantisches Bild, was den steril-puristischen Stil der Inszenierung auflockert und ans Herz geht.
Ohne Kontaktscheu gehen die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen wie selbstverständlich auch mit dem härteren Stoff rund um Depression und Suizid um. Helena Schön als Lena zeigt zum Gesang ihrer Kolleginnen eine starke Leistung und spielt die innerlichen Schmerzen voll aus, als sie unter Höchstanstrengung ihr Kleid hinter sich herzieht und dann versucht, sich mit diesem zu strangulieren.
Nora Schlocker setzt einen starken Fokus auf den Weltschmerz junger Menschen und deren angewöhnten Zustand, zwischen Betroffenheit und Gleichgültigkeit hin- und herzupendeln. An manchen Stellen wirkt die Problematik zu sehr betont und durch das teilweise sehr junge Alter der Darsteller:innen leider etwas unnatürlich und dogmatisch. Aufgelockert wird die Inszenierung jedoch immer wieder durch abwechslungsreiche Bilder, viel Bewegung im Raum und schnelle Interaktion zwischen den Spielenden.
Entgegen des Entschlusses nicht heiraten zu wollen, verlieben Leonce und Lena sich auf ihrer Reise, gehen aber dennoch auseinander. Lena verschwindet nach Italien, während am Hofe König Peters zwei Automaten anstelle Leonces und Lenas getraut werden.
Als der gealterte König Peter seinem Sohn das Erbe und die Verantwortung übertragen will, sprudeln Leonce und die anderen vor Ideen für die Zukunft fast über – lehnen aber trotzdem ab. Eine Kooperation der Generationen scheint hier nicht möglich, sie waren ja nicht einmal im Gespräch miteinander. Da bleibt dem alten König nur seine eigene Verrücktheit als Trost, während er von der Last des Mondes, die auf seinen Schultern liegt, in die Knie gezwungen wird: „Aber, habe ich nicht den Beschluss gefasst, dass meine königliche Majestät sich an diesem Tag freuen sollte? O ich weiß mir vor Freude nicht zu helfen. Halt, ist der Schluss logisch?“
© Charlotte Groß-Honacker
Clara Quebbemann ist 23 Jahre alt und studiert an der Technischen Universität Dortmund Musikjournalismus. Auch neben der Musik mag sie Kunst und Kultur jeglicher Form und befindet sich gerade auf Entdeckungsreise.