Ein beschaulicher Ort inmitten der bayerischen Alpen ist die Wiege der weltweit größten Passionsspiele. Die Pandemie schob dem gigantischen Theaterprojekt 2020 kurzerhand den Riegel vor. Zwei Jahre später soll es nun wieder soweit sein. Rund 100 Aufführungen sind zwischen dem 14. Mai und 2. Oktober 2022 in Oberammergau geplant. Neugierige Zuschauer:innen aus aller Welt reisen hierfür an – das lange Warten durch Corona hat nur noch mehr Lust gemacht.
Zu den diesjährigen Passionsspielen werden außerdem erstmals die Jugendtage ins Leben gerufen. Am Wochenende vom 7. und 8. Mai erhalten bis zu 8000 Gäste zwischen 16 und 28 Jahren die Chance, hautnah am Geschehen dabei zu sein. Tickets hierfür gibt es schon ab 8 €.
Doch was hat es eigentlich mit diesem Theaterereignis auf sich? Sein Ursprung liegt in einem Gelübde, das die Oberammergauer:innen im Jahr 1633 abgelegt haben: Um weiteres Leid und Sterben durch die Pest zu verhindern, wollen sie alle zehn Jahre die letzten Tage im Leben Jesu aufführen – vom Einzug in Jerusalem bis zum Tod am Kreuz und zur Auferstehung. Mit dabei sind 100 Chorsänger:innen sowie ein großes Orchester. Eine Tradition, die bis heute fest zur Identifikation des Ortes gehört. Um mitspielen zu dürfen, muss man in Oberammergau geboren und aufgewachsen sein oder seit mindestens zwanzig Jahren dort leben. Es handelt sich also in der Regel um Laiendarsteller:innen, für die das Theater ein Hobby ist.
So auch für Rochus Rückel und Sophie Schuster, die zur jüngeren Generation unter den Mitwirkenden gehören. Bei der letzten Passion 2010 standen sie als Teil des Volks auf der Bühne, damals im zarten Teenageralter. Doch für dieses Mal haben ihnen Spielleiter Christian Stückl und der zweite Spielleiter Abdullah Karaca zwei ganz besondere Rollen zugeteilt – die des Jesus und der Maria Magdalena. Allein die Darstellerbekanntgabe ist ein offizielles Event. Sophie erzählt: „Da kommt ein Haufen Leute und wartet darauf, welche Namen angeschrieben werden. Als dann da auf einmal meiner stand, habe ich ein paar Tage gebraucht, bis ich das realisieren konnte. Natürlich freut man sich total, aber auf der anderen Seite hat man einen enormen Respekt vor der Sache.“
Schließlich sind Sophie und Rochus nicht hauptberuflich Magdalena bzw. Jesus. Sophie absolviert ein Fernstudium und arbeitet in einer Bank, Rochus hat Luft- und Raumfahrttechnik studiert und jetzt im Master Fahrzeugtechnik belegt. „Die Leute fanden das dann auch immer ganz lustig, wegen Luft- und Raumfahrt und Himmelfahrt und so“, erzählt Rochus.
Mittlerweile hat die intensive Probenphase begonnen. Abends kommen Jung und Alt zusammen, nach der Arbeit, nach der Vorlesung, nach der Schule, für drei Stunden Probe mit voller Besatzung – nicht ohne vorher am Eingang digital einzuchecken und sich einem Schnelltest zu unterziehen. Das Virus muss draußen bleiben. Die Oberammergauer:innen trudeln dann nach und nach in den Probensaal ein, tauschen sich aus, lachen zusammen und bleiben nach getanem Einsatz gerne noch auf ein Bier, um das Feierabend-Feeling mitzunehmen. Es ist ein besonderes Gemeinschaftsgefühl, das während dieser Zeit entsteht.
Der Ernst bei der Sache geht dabei nicht verloren. Christian Stückl sorgt schon während der Proben dafür, dass jede:r die eigene Rolle voll und ganz versteht und auch ohne Kostüm und Bühnenbild jede Regung, jede Handlung nachvollziehen kann. „Das hilft natürlich extrem, wenn man zusammen erarbeitet, was in der Figur gerade vorgeht“, findet Sophie. „Wir sind 2019 auch nach Jerusalem gereist, damit wir mit eigenen Augen sehen können, wo das Ganze überhaupt stattgefunden hat. Man kriegt so nochmal ein anderes Gefühl dafür.“
Für alle Mitwirkenden ist es eine intensive und prägende Zeit und man spürt den Respekt, den sie vor dem Stoff haben. „Klar hat man auch viel Gaudi, aber eher hinter der Bühne. Was auf der Bühne passiert, hat eine ganz große Tragweite, weil es für viele Menschen das absolute Zentrum im Leben ist“, sagt Rochus. „Jesus ist keine klassische Rolle, die man an- und auszieht. Ich spüre eine gewisse Verantwortung gegenüber den Leuten aus dem Dorf und auch vor dem gläubigen Publikum. Man möchte es so hinbekommen, dass man der Sache gerecht wird.“
Bei der Fülle an Aufführungen ist es sinnvoll, dass die Hauptrollen immer doppelt besetzt sind. Frederik Mayet und Barbara Schuster spielen ebenfalls den Jesus bzw. Magdalena. Für Rochus und Sophie ein fruchtbares Konzept, weil man sich gegenseitig Input geben und helfen kann. „Da herrscht kein Konkurrenzdenken, ganz im Gegenteil“, stellt Sophie klar. So sieht das auch Rochus: „Man telefoniert eigentlich jeden Tag und spricht sich immer ab, wer wann spielen will. Das ist ganz praktisch.“
Auch wenn jede:r das eigene Spielen mit einer persönlichen Note versieht, entspringt die Interpretation der Figuren aus der Feder von Stückl, der den Text über die Jahre stellenweise modernisiert hat. Rochus verrät über seine Rolle: „2000 war Jesus mehr so der Revoluzzer, der richtig draufgehauen hat. 2010 war es eher der weise Jesus. Und jetzt ist man beim Jesus, der sozial ist, der am Rande der Gesellschaft steht und bei den Aussätzigen, Armen und Kranken ist. Weil es halt am besten zur jetzigen Zeit passt.“
Auch Sophie sieht in ihrer Rolle Eigenschaften von universaler Gültigkeit – sie bewundert Magdalenas starke Persönlichkeit: „Was ich echt faszinierend an ihr finde, ist, dass sie sich nicht von ihrer Meinung abbringen lassen hat. Es war bestimmt nicht einfach, als Frau diesen Weg zu gehen.“ Auf den vielleicht wichtigsten Moment für Magdalena, die Auferstehung Jesu, deren erste Zeugin sie wird, ist Sophie besonders gespannt: „Davor habe ich am meisten Respekt. Gleichzeitig glaube ich, dass mir diese Szene am meisten Spaß machen wird.“ Zum Glück rückt die Premiere allmählich näher. „Sobald wir auf der Bühne stehen, wird die Motivation noch mehr steigen und wir können endlich spielen, was wir so lange geprobt und vorbereitet haben.“
Dass jede ihrer Inszenierungen auch Kind ihrer Zeit ist, hält die Passionsspiele trotz fast 400 Jahre alter Tradition jung und gegenwärtig. Seit ihrer Entstehung ist Rochus ist der zweitjüngste Jesus-Darsteller. Er weiß: „Unserem Spielleiter liegt es sehr am Herzen, dass immer genügend Nachwuchs hinterherkommt.“
Das zeigt sich auch in der Idee der Jugendtage 2022. „Ich finde es ganz cool, dass es jetzt diese Option gibt. Ich bin gespannt, wer da alles kommen wird“, freut sich Sophie. Jugendliche und junge Erwachsene können bei den letzten Proben vor der eigentlichen Premiere zuschauen – im Passionstheater mit Kostümen, Chor und allem Drum und Dran. „Das ist quasi zu hundert Prozent das gleiche wie eine richtige Vorstellung“, verrät Rochus. Die Jugendtage dienen als Ort der Begegnungen und des Austauschs. So bietet das Programm auch Podiumsdiskussionen an sowie Übernachtungsoptionen, die man dazu buchen kann. Eine einmalige Gelegenheit, findet auch Rochus: „Am meisten freue ich mich dabei, endlich wieder neue Leute zu treffen und vielleicht ein paar coole Gespräche zu führen.“
Die Autorin , 27 Jahre alt, hat Germanistik und Literaturwissenschaft in Salzburg und München studiert und macht momentan ein Volontariat bei einer Dokumentarfilmfirma in München