Braucht die Welt noch Helden?
Das postheroische Zeitalter schien längst eingeläutet, heroische Werte und Figuren längst auf dem Abstellgleis westlicher Gesellschaften. Einzig auf Kinoleinwänden und Spielkonsolen findet sich hier und da noch die Figur des Helden wieder. Kommen wir mit ihr in Berührung, weckt sie einen unbekannten Ur-Trieb der Begeisterung ins uns, der für kurze Zeit wieder spürbar wird, sich dann aber ebenso rasch wieder verflüchtigt. Denn das Verhältnis von westlichen Gesellschaften zum Helden hat sich gewandelt. Das Heroische wurde, aus verschiedensten Gründen, abgeschafft und für überholt und schlecht erklärt. Es wurde einfach nicht mehr gebraucht. Doch angesichts aktueller globaler Krisen, die auch vor den Türen Europas längst keinen Halt mehr machen, flammt das Bedürfnis nach Heldenfiguren neu auf. Und das nicht zuletzt durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Stellt sich nur die Frage: Ist das etwas Gutes oder etwas Schlechtes?
Um die Frage aus heutiger Perspektive zu beantworten, könnte sich ein Blick in die Vergangenheit lohnen, als man in der Antike begann, sich Götter- und Heldensagen zu erzählen und aufzuschreiben. Am Anfang der europäischen Literatur stehen dabei vor allem Homers Epen der „Illias“ und der „Odyssee“, in denen er vom zehn Jahre andauernden Trojanischen Krieg und den Abenteuern des Königs Odysseus und seiner Gefährten während ihrer zehnjährigen Heimfahrt nach Ithaka berichtet. Die „Odyssee“ ist dabei ein Heldenmythos, den wir uns seit Jahrhunderten wieder und wieder erzählen. Im Zentrum steht Odysseus, der sich insbesondere durch seinen raffinierten Verstand und seine listigen Ideen auszeichnet und maßgeblich zum Fall Trojas beigetragen hat. Ein Mann, der aufgrund seiner Taten, nicht nur von seinem eigenen Volk bei der lang ersehnten Rückkehr bejubelt, gefeiert und verehrt wird. Und dennoch ist er mehr als nur ein Held: Er ist auch König eines Volkes, Sohn eines Vaters, Ehemann einer Ehefrau und Vater eines Sohnes. Was hinterlässt das für Spuren, wenn so jemand 20 Jahre abwesend war? Und lassen sich all diese Rollen gleichzeitig ausfüllen oder schließen sie sich gegenseitig aus – Held oder Familienvater sein?
In „odysseus.live“ lässt Regisseurin Cosmea Spelleken, die 2021 von Theater heute zur Nachwuchsregisseurin des Jahres gewählt wurde, Odysseus nach seiner Heimkehr in der beliebtesten Talkshow des antiken Griechenlands, „Studio Ithaka“, auftreten. Gemeinsam mit seiner Gattin Penelope und seinem Sohn Telemachos stellt er sich den Fragen des Moderators Aporias und des Talkshowpublikums – inklusive einem animierten Einspieler, der den Troja-Krieg unterhaltsam zusammenfasst, einer Liveschalte in den Olymp zu Athene und Hermes sowie einer Videobotschaft von Menelaos an Odysseus, samt digitalisierter Foto-Postkarten aus Sparta. Nach ihren digitalen Theaterproduktionen „werther.live“ und „möwe.live“ präsentiert die Regisseurin nun am Staatstheater Nürnberg in Koproduktion mit dem Bayerischen Rundfunk ihre erste analoge Bühneninszenierung, die zugleich als hybrides Theaterstück sowohl in den Kammerspielen als auch vor dem heimischen Endgerät zu erleben ist. Bühnen- und Kostümbildnerin Linda Siegismund hat dafür den Theatersaal in ein großes Fernsehstudio verwandelt, in dem die Zuschauer*innen als Talkshowpublikum das Geschehen laut kommentieren – mit Buh-Rufen wie großen Jubelstürmen. Außerdem können Fragen an die Königsfamilie via Mail und Social Media eingereicht werden, die ihnen im zweiten Teil des Abends in einer Schnellfragerunde gestellt werden.
Darüber hinaus bleibt Spelleken dem partizipativen Ansatz ihrer Inszenierungen treu und schafft in der digitalen Welt, über den Livestream hinaus, einen Ort der Begegnung: Auch in „odysseus.live“ kann man auf Instagram zentralen Protagonist*innen folgen, ihre persönlichen Beiträge und Stories durchstöbern und sie direkt anschreiben. Mit viel Mühe und Liebe zum Detail entsteht so die Möglichkeit einer mehrdimensionalere Zeichnung der Figuren, die man auf der Bühne schmerzlich vermisst. Die Tiefe der Figuren bleibt zu oft zweidimensional, es fehlt ihnen an Haltung, die über eine gesprochene Behauptung hinausgeht. Diese Tatsache lässt sich allerdings auch auf das gewählte Medium der Talkshow zurückführen, in dem die Gäst*innen versuchen, sich bestmöglich darzustellen und eine Scheinwelt zu konstruieren, die von der Moderation mit geschickter Gesprächsführung, kritischen Fragen und sicherem Timing aus der Reserve entlarvt werden will. Damit verdeutlicht Spelleken, welches Bild eines Helden welches Medium vermittelt und dass dabei keines in der Lage ist, die Realität in ihrer Gänze abzubilden.
Bleibt also die Frage, wie wir die Heimkehr des Helden bzw. die Rückkehr der Heldenfigur in westliche Gesellschaften bewerten wollen. Ernüchternd müssen wir dabei allerdings feststellen, dass es eben keine allgemeingültige Antwort darauf geben kann: Denn wir alle sprechen aus unterschiedlichen Perspektiven und teilen nicht die gleichen Erfahrungswerte. So ist es nur folgerichtig, dass das Volk Ithakas, Penelope, Telemachos sowie Odysseus zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen und sich konflikthaltige Gräben zwischen den Protagonist*innen auftun. Die Talkshow fungiert dabei als Indikator, der eine große Zerrissenheit sichtbar macht – zwischen den Figuren, aber auch mit sich selbst. Kinderbücher, Actionfiguren, Verfilmungen und Mythen sind lediglich das Abziehbild einer Heldenfigur, die mehr darüber aussagt, wie wir sie sehen wollen und welche Kraft wir ihr beimessen, und weniger darüber, wie der Mensch, der dahinter steht, eigentlich ist, was er erlebt und erlitten hat und in welche Abgründe er schauen musste.
In Bertolt Brechts „Galileo Galilei“ heißt es treffend: „Unglücklich das Land, das keine Helden hat… Nein. Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“ Menschen in einem freiheitlich-demokratischen Staat befinden sich in einer privilegierten Position: Sie sind nicht auf das Heldentum Einzelner angewiesen, um ihre Probleme zu lösen, weil ihnen ein funktionierender Gesellschaftsapparat zur Verfügung steht. Anders sieht das jedoch in Staaten aus, in denen Helden nötig sind, um an etwas zu glauben, das einem Hoffnung spendet und durch schwere Zeiten führt. Mit Blick auf die aktuelle Situation in der Ukraine mag man ein Gefühl dafür bekommen, woher diese Sehnsucht rührt. Die antiken Heldensagen, wie die um Odysseus, sollten uns aber lehren, ihre Taten wieder auf ein irdisches Maß zurückzuführen – um neue Narrative und vielfältige Perspektiven auf sie freizugeben und sie als das begreifen, was sie eigentlich sind: nur Menschen.