Zwischen virtuellen Hühnern und Patriarchat
Plötzlich sitze ich nicht mehr auf dem Teppich am Boden meines Schlafzimmers, sondern in einem rot besamteten Theater-Sessel. Ich blicke nach rechts und links, mein Blick schweift über leere Sitzreihen. Wenn ich mich umdrehe, sehe ich die Lehne meines Sessels, alles wirkt sehr echt. Vor mir im Bühnenraum schwebt das Auswahlmenü meiner VR-Brille. Ich richte den Blick auf „Oleanna“ und die Wiedergabe startet. Und zack, bin ich wieder an einem anderen Ort. Inmitten einer pompösen Universitätsbibliothek sitze ich zwischen einer jungen Frau und einem mittelalten Mann, eine Studentin und ihr Professor.
„Oleanna“ ist eines der Stücke, die das Staatstheater Augsburg als Virtual-Reality-Erlebnis anbietet. Dazu verschickt das Theater die Brillen deutschlandweit. Leihgebühr und Theaterticket kosten zusammen 17,90 Euro. Dann gehört die VR-Brille für zwei Tage Dir. Mit „Oleanna“ hat Regisseur Axel Sichrovsky das Zwei-Personen-Stück von 1992, das schon vor zwei Jahren am Staatstheater Augsburg Premiere feierte, für die VR-Version noch einmal neu aufgelegt. Verfasst von dem amerikanischen Dramatiker David Mamet, illustriert das Werk das Machtverhältnis zwischen einem Professor und seiner Studentin. Dieses dreht sich im Laufe des Stückes um. Der Konflikt zwischen den beiden eskaliert zunehmend, und mündet schließlich in eine grundsätzliche Debatte über Recht und Unrecht.
Die Studentin Carol (Katja Sieder) kommt an der Uni nicht mit. Im Gespräch mit dem Professor John (Andrej Kaminsky) fleht sie ihn an, sie nicht wegen ihrer mangelhaften Arbeit aus dem Seminar zu werfen. Anfangs abweisend, erweicht sich der Professor mit der Zeit, und ignoriert schließlich sein ständig klingelndes Telefon, um sich ganz der Studentin zu widmen. „Wenn Sie etwas nicht verstanden haben, liegt das an mir, nicht an Ihnen“, gesteht er zu und zeigt sich bemüht, der jungen Frau weiterzuhelfen. John bietet Carol an, den Seminarstoff noch einmal mit ihr durchzugehen, denn die Studentin sei ihm sympathisch. Dabei wird er immer privater, erzählt von seinen eigenen Selbstwertproblemen, von seiner Frau, seinem Haus.
Ich als Zuschauerin sitze dabei mitten im Bühnenbild und blicke zwischen den beiden hin und her, während ich ihr Gespräch verfolge. Zwischen den Akten laufen kurze Szenen aus einer Dokumentation über Hühner. Ein Sprecher erklärt, an welcher Körperhaltung man bei ihnen Unter- bzw. Überlegenheit erkennt. Diese gilt es nun im nächsten Akt an der menschlichen Spezies zu observieren. Wir befinden uns nun in einem schwarzen, konturlosen Raum, in dem die beiden Charaktere über eine Beschwerde diskutieren, die Carol gegen John eingereicht hat. „Ich will Ihnen doch nur helfen! Was hab‘ ich Ihnen denn getan?“, fleht der Professor in der Hoffnung, Carol möge ihre Beschwerde widerrufen. Doch die bleibt dabei. Ihre Vorwürfe: John sei sexistisch, elitär und selbstverherrlichend.
Der dritte Akt findet schließlich, logisch an die Hühner-Intermedien anknüpfend, in einem Hühnerstall statt. Dort durchbrechen die Schauspieler*innen nun hemmungslos die vierte Wand. „Ich hab‘ weder im ersten, noch im zweiten Akt geflirtet!“, versucht sich der Professor gegen die Vorwürfe der Studentin zu verteidigen, die mittlerweile bis zum Vorwurf einer Vergewaltigung reichen. „Was meinst du? Hab‘ ich geflirtet?“, sucht er bei mir nach Unterstützung. Die beiden treten aus der Illusion des Stücks heraus, indem sie Regieanweisungen mitsprechen oder absichtlich Texthänger einbauen. Bei Letzteren hilft ein Riesen-Huhn in fransigem Gewand weiter, das soufflierend in der Ecke sitzt. Auch sonst gibt es in diesem Szenenbild viel zu sehen. Während die Hühner ungerührt vor sich hin picken, entfaltet sich um mich herum ein wahres Feuerwerk der Spielfreude in diesem Gehege. Die beiden Spielenden wechseln rasant zwischen ihrer Rolle und der Präsenz als Schauspieler*in hin und her, holen aus ihren simplen Kostümen Bedeutungstiefen hervor, erschaffen pantomimisch Requisiten aus der Luft, und spielen sich aneinander ab, dass die Funken sprühen.
Schon lange vor den Me-Too-Debatten verfasst, zeigt „Oleanna“ eindrücklich, wie präsent patriarchale Unterdrückung in unserem Alltag ist, und darüber hinaus, dass diese so normalisiert ist, dass sie kaum auffällt. Ausgehend von dem Gespräch der beiden im ersten Akt und dem, was tatsächlich zwischen ihnen vorgefallen ist, wirken die Anschuldigungen der Studentin jedoch tatsächlich übertrieben und haltlos, sodass ich als Zuschauerin fast eher mit dem Professor sympathisiere. Auf eine befremdliche Art scheint das Stück so die genau gegenteilige Absicht des Me-Too-Aktivismus zu vertreten.
Als ich die Brille und die Kopfhörer schließlich abnehme und langsam wieder in der tatsächlichen Realität ankomme, lässt mich dieses virtuelles Theatererlebnis nachhaltig beeindruckt zurück. Fast übertrifft die VR-Version einen normalen Theaterabend an Intensität, ist man hier doch mitten ins Bühnengeschehen integriert. Der einzige Wermutstropfen ist, das Stück nicht gemeinsam erleben zu können. Und dass ich am Ende keinen Applaus spenden kann.
Außer „Oleanna“ bietet das Staatstheater Augsburg noch sechs weitere VR-Stücke an, darunter zwei Ballette. Weitere Informationen gibt es hier: https://staatstheater-augsburg.de/vr_theater_at_home