Das dreitägige Festival am Theater Oberhausen präsentierte internationale Gastspiele, Konzerte, Lesungen neuer dramatischer Texte, Performances, Panel-Talks und Stücke aus dem eigenen Repertoire. Alles mit dem Fokus Südosteuropa. Eine Masterclass bestehend aus jungen Künstler:innen aus der Türkei, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Serbien, Georgien und Deutschland begleitete das Festival und war Teil von Workshops und Diskussionen. Alle Produktionen, die im Programm des Festivals liefen, verhandeln, passend zum Spielzeitmotto des Theaters „The rest is history“ auf unterschiedliche Art und Weise das Erinnern: Vergessene Geschichten und Themen werden aufgearbeitet und es wird sich sowohl sehr persönlich, als auch gesamtgesellschaftlicher mit der Vergangenheit auseinandergesetzt.

Generationsbegegnungen und die Geister ihrer Vergangenheit
Ein Highlight des Festivals ist sicher die Produktion „Darkness on the Edge of Town“, ein Gastspiel des Ivan Vasoz Nationaltheaters in Sofia (Bulgarien). Das Stück des bosnischen Autors Dario Bevanda wurde im Rahmen des vorangegangen New Stages South East Festivals 2023 in einer Lesung vorgestellt. Intendantin Kathrin Mädler inszenierte es daraufhin in Sofia. Darin finden zwei Reinigungskräfte beim Aufräumen einer alten Wohnung in Sarajewo (Bosnien und Herzegowina), Kassetten mit einem Kriegstagebuch, aus der Zeit der Belagerung von Sarajewo in den 90ern. Fikreta kann sich selbst noch an diese Zeit erinnern, auch wenn sie tunlichst versucht, sie zu vergessen, während ihre Nichte Betina, in die Vergangenheit des ehemaligen Bewohners eintauchen will. Ein berührender Generationenkonflikt entsteht, bei dem sich Gegenwart und Vergangenheit überlagern, Traum und Realität verschwimmen und jede Figur sich ihren persönlichen Geistern der Vergangenheit stellen muss. Die klare, schlichte Inszenierung, die große schauspielerische Leistung des Ensembles (Bilyana Petrinska, Zafir Radjab und Aneta Ivanova) und der anrührende Text bilden einen bereichernden Abend, der die Geschichte Sarajewos authentisch in die Gegenwart holt.
Auch die Performance „Let’s meet for a Kneidelsoup – 3rd Generation Mash-up“ beschäftigt sich damit, wie man die Vergangenheit aufarbeiten und sichtbar machen kann. Das israelische Paar, Nadia Migdal und Uri Fahndrich, laden das Publikum an eine große Tafel zu Wein und Kneidelsuppe ein und gehen der Frage nach, wie eine nicht religiöse jüdische Praxis aussehen könnte. Sie erzählen die Geschichten ihrer Vorfahren und bringen dem Publikum die Kultur, mit der sie aufgewachsen sind, ein Stückchen näher. Denn zusammen essen ist etwas, was Menschen zusammenbringt! Nadias Großvater erklärt es so: „Der Kern aller religiösen Feiertage ist einfach zu erklären: Sie haben versucht uns umzubringen, wir haben überlebt, lasst uns essen!“ Als interaktives Ratespiel werden mit dem Publikum die jüdischen Feiertage durchgegangen. Mit einer großen Leichtigkeit und Freude und trotzdem der richtigen Ernsthaftigkeit kreiert das Paar eine willkommen heißende Atmosphäre und öffnet einen Raum für das Erinnern.
Im Kampf gegen das Vergessen
Die Produktion „96%“ aus Thessaloniki von Prodromos Tsinikoris versucht mit einer fast investigativen Art des Dokumentartheaters, das Vergessen einer ganzen Stadt aufzuhalten. Als Thessaloniki 1941 der deutschen Besatzung überlassen wurde, führte das zur Vernichtung von 96% der jüdischen Bevölkerung der Stadt. Während die Stadt unter der Besatzung litt, wurde nach außen hin das Touristenparadies propagiert. Der jüdische Friedhof der Stadt wurde zerstört und eine Universität darauf gebaut, die Steine des Friedhofs genutzt um damit unter anderem 1943 das Nationaltheater zu bauen. Das Eigentum der deportierten Juden und Jüdinnen wurde verschenkt oder verkauft, als Requisiten im Theater benutzt und ihre Wohnungen an Schauspieler:innen vermietet. Das Team von Tsinikoris fordert dazu auf, die Vergangenheit anzuerkennen, statt sie zu verstecken. Sie sprechen mit Zeitzeug:innen, recherchieren und konfrontieren die Stadt und ihre Bewohner:innen mit ihren Ergebnissen. Und das mit Erfolg: am Nationaltheater soll nun eine Gedenktafel angebracht werden, die die Geschichte der Steine, auf denen es erbaut ist, aufarbeitet. Hier wird ganz deutlich klar, welche Kraft Theater haben kann und wie auf einfühlsame, kritische und doch unterhaltsame Art Licht auf ein Thema geworfen wird, einem Thema eine Bühne gegeben wird, das viel zu lange strategisch vergessen wurde.

Der griechische Autor und Regisseur Thanos Papadogiannis hatte beim Festival 2023 bereits mit einer Drag-Show gastiert und führt beim diesjährigen Festival sein Projekt „Becoming a Wrestler – Can I, Mom?“ auf. Er verbindet die performative Sportart des Wrestlings mit seiner persönlichen Familiengeschichte. Mit einer Mischung aus Erfahrungsberichten aus dem Wrestling-Training und Tagebucheinträgen voller Kindheitserinnerungen kreiert der Autor mit den Ensemblemitgliedern Anna Polke und David Lau eine berührende, wie auch komödiantische Performance. Er arbeitet den ewigen Kampf gegen seine Mutter, der er es nie recht machen konnte, in einem Wrestling Kampf seines Alter Egos Tiger Paris gegen den Bösewicht, der seine Mutter verkörpert, auf. Eine spannende Art des persönlichen Erinnerns, das in einer Befreiung von Altlasten endet. Ebenfalls mit dem persönlichen Erinnern beschäftigt sich das Stück „Only God can Cancel me“ von und in der Regie von Elias Adam. Der griechische Autor hatte seinen Text über die Beziehung seiner Mutter beim Festival 2023 schon in einer szenischen Lesung vorgestellt und ihn nun mit Ensemblemitglied Jens Schnarre weiterentwickelt.
Raum für neue Stimmen aus Südosteuropa
Auch die Stücke aus dem Repertoire in Oberhausen, beschäftigen sich mit dem Erinnern. In „Oratorium Doyçland“ (Regie: Caner Akdeniz) werden mit der fiktiven Band „Doyçland“, Lieder der Gastarbeiter aus Griechenland, Spanien, der Türkei und dem vormaligen Jugoslawien performt und so an ihren Schmerz und ihre Heimatlosigkeit erinnert. Das Stück „Sauer“ (Regie: Niko Eleftheriadis) von Autorin Asja Krsmanović wurde ebenfalls beim New Stages South East Festival 2023 uraufgeführt und beschäftigt sich mit dem Mikrokosmos Familie: beim alljährlichen Gemüse einlegen, kochen typische familiäre Konflikte hoch. Aber was passiert, wenn eins der Familienmitglieder plötzlich nicht mehr ist? Wie ändert sich die Dynamik? Das Stück spielt mit der Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Realitäten, die jeweils mit sehr verschiedenen Mitteln inszeniert werden; mal im dramatischen Telenovela-Style, mal durch comicartige Videos oder in starrer Erzähltheater-Form.
Nicht unerwähnt soll die szenische Lesung bleiben, bei der die Texte von den Autor:innen Oana Hodade, Jasmina Music und Vladislav Stoimenov präsentiert wurden. In ihnen werden der Völkermord von Screbenica (Bosnien und Herzegowina) thematisiert, Zukunftsvisionen erarbeitet und Familiengeschichten mit alternativen Wirklichkeiten erfunden. Es wird Platz geschaffen für neue Stimmen aus Südosteuropa, ihren Themen ein Raum gegeben, ihren Geschichten zugehört.
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© privat
Violetta Zwick wurde 2001 in Saarbrücken geboren und wuchs in Oberhausen auf. Sie studierte Deutsche Literatur und Europäische Ethnologie an der HU Berlin. Nebenbei sammelte sie Erfahrungen im Theaterbereich durch Hospitanzen am Theater Dortmund und am Deutschen Theater Berlin, sowie beim Suhrkamp Theater Verlag. Erste Erfahrungen als Kritikerin, konnte sie bei den Autor:innen Theatertagen 2024 am Deutschen Theater machen. Violettas Interesse liegt vor allem bei Inszenierungen, die aktuelle Themen der Gegenwart klug und/oder humorvoll wiedergeben.