Nach Jahren der Militärdiktatur und der damit verbundenen Durchsetzung neoliberaler Wirtschaftspolitik kehrte das Land 1990 zur Demokratie zurück. Die Militärdiktatur wirft jedoch ihre langen Schatten auf die heutige chilenische Gesellschaft. Die Aufarbeitung der Diktatur und die Bestrafung der Verantwortlichen werden nur zaghaft angegangen, während das neoliberale System unangetastet bleibt und in die chilenische Verfassung festgeschrieben ist, eine Verfassung, die 1980 unter Augusto Pinochet eingeführt wurde und bis heute in Kraft ist. Chile hat zwar die höchsten Wirtschaftswachstumszahlen in der Region, aber auch die größte soziale Ungleichheit. Es ist fast alles privatisiert. Bodenschätze, Wasser, Gesundheit, Schulen, Universitäten und Medienunternehmen befinden sich in privater Hand. Es gibt natürlich auch keine Stadt- und Staatstheaterstruktur mit festangestellten Schauspieler*innen wie wir es in Deutschland kennen, sondern eine Vielzahl an freien Gruppen, die projektbezogen arbeiten.
Der argentinische Regisseur Lisandro Rodriguez, der in Buenos Aires das Estudio Los Vidrios leitet, bot im Rahmen des Santiago a Mil Festivals 2019 einen Workshop an, der in eine Inszenierung für das kommende Jahr münden sollte. Dabei wollte er sich mit den Grenzen von Fiktion und Realität, Schauspiel und Bericht auseinandersetzen. Für die Teilnahme an diesem Stückentwicklungsworkshop sollten zunächst Arbeitserfahrungen und Fotos eingereicht werden. Darüber hinaus wurde aber auch nach politischer Haltung und gesellschaftlichem Engagement gefragt. „Was sind für dich die drängendsten gesellschaftspolitischen Fragen und wie setzt du dich damit künstlerisch auseinander?“ Es war erkennbar, dass ich hier in dieser Art der Theaterarbeit über das klassische Verständnis eines Schauspielers hinaus auf verschiedensten Ebenen gefordert sein würde. Zusammen mit circa 20 anderen Schauspieler*innen konnte ich an dem Workshop teilnehmen und so begann im Januar 2019 die erste Phase der Arbeit an dem Stück „La condición humana“.
Ausgehend von Übungen, die Simone Weil in den 1930er Jahren entwickelte, um Arbeiter*innen zum Schreiben über ihre Lebenssituation zu ermutigen, sammelten wir Erfahrungsberichte chilenischer Arbeiter*innen. Welche Ängste und Hoffnungen, welche Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit erfahren sie in ihrem Arbeitsalltag? Im Rahmen einiger theaterpraktischer Übungen schrieben wir über unsere eigenen Ziele und Zweifel, unsere Fragen an das Schauspielen und unser Theaterverständnis und lasen uns unsere Texte gegenseitig vor. Wir machten Fotos, die unsere momentane Lebenssituation darstellen sollten und wählten Lieder aus, die uns bewegten. Am Ende der Probenwoche gab jede*r ihr gesammeltes Material einer anderen Kursteilnehmer*in, die daraus eine Performance gestaltete.
Obwohl ich vorher noch nie in Chile gewesen war, denke ich, dass mir durch diese Art der Theaterarbeit innerhalb kürzester Zeit ein intensiver Einblick in die gesellschaftlichen Verhältnisse Chiles möglich war. Während ich im öffentlichen Raum und in Gesprächen mit Freund*innen eine gewisse Schwere und Sprachlosigkeit empfand, gab der Workshop den Raum, sich zu artikulieren. Es wurde über die Prägung des eigenen Alltags durch gesellschaftliche Themen wie Schulden, Klassengesellschaft, Homophobie und Rassismus diskutiert. – auch Gefühle von Ohnmacht und Ausweglosigkeit wurden benannt. Besonders die gemeinschaftliche Auseinandersetzung damit, wie wir als Schauspieler*in / Performer*in / Künstler*in arbeiten und auf die Wirklichkeit einwirken können, empfand ich als sehr fruchtbar. Der Workshop war für mich eine Art Gradmesser für soziale Spannungen und ich spürte konkret, wie die Theaterpraxis ein Handwerk sein kann, gesellschaftliche Zusammenhänge zu befragen und zu ergründen.
Als am 18. Oktober 2019 in Chile soziale Unruhen ausbrachen, war ich bereits zurück in Berlin. Auslöser der Unruhen war eine Fahrpreiserhöhung der öffentlichen Verkehrsmittel. Die Proteste weiteten sich schnell auf das ganze Land aus. Der Staat reagierte mit äußerster Härte. Präsident Sebastián Piñera erklärte in einer Fernsehansprache, Chile befinde sich im Krieg gegen einen äußerst mächtigen und gnadenlosen Feind, der nichts und niemanden respektiere. Er rief den Ausnahmezustand aus und ordnete eine Ausgangssperre an. Die durch die Straßen patrouillierenden Militärs riefen in vielen Chilen*innen die schlimmsten Erinnerungen an die Verbrechen der Militärdiktatur zwischen 1973 und 1990 wach. Allerdings hat sich die gesellschaftliche Lage in Chile heute verändert: Eine junge und furchtlosere Generation, die die Schrecken der Militärdiktatur nicht miterlebt hat ist durch die politischen Kämpfe der Schüler*innen und Student*innen für ein öffentliches Bildungssystem und die feministische Bewegung der letzten Jahre mit einem gestärkten Selbstbewusstsein ausgestattet. Vor allem junge Chilen*innen ließen sich von Polizei- und Militärpräsenz nicht einschüchtern und gingen trotz Ausgangssperre auf die Straßen. Bis heute kommt es täglich zu Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und der Polizei. Es gab 32 Todesopfer und über 400 Menschen, denen ein Auge ausgeschossen wurde. Es gibt Berichte über Scheinerschießungen, sexuellen Missbrauch, Vergewaltigungen und Misshandlungen unterschiedlichster Art durch die „Sicherheitskräfte“.
Als ich über die Presse und soziale Netzwerke von diesen massiven Menschenrechtsverletzungen in Chile erfuhr, intensivierte ich den Kontakt zu meinen chilenischen Kolleg*innen. Ich entschloss mich, erneut nach Chile zu reisen, um zu erfahren, wie eine kreative Arbeit unter diesen Umständen möglich ist und wie die aktuellen Geschehnisse sich auf die Stückentwicklung auswirken.
Das Goethe Institut ermöglichte mir durch eine finanzielle Unterstützung, die Endprobenphase und die Vorstellungen von „La condición humana“ in Santiago begleiten zu können. Die Fragen, die wir uns ein Jahr zuvor in kleinem Rahmen gestellt hatten, wurden mittlerweile auch in Massenprotesten auf der Straße verhandelt. Das Prozesshafte der Arbeitsweise setzte sich in der letzten Probenwoche und bis in die Vorstellungen hinein fort. Die Collagentechnik ermöglicht es, fast tagesaktuell neue Entwicklungen mit aufzunehmen. Das Stück ist gespickt mit Anspielungen auf die prekäre aktuelle gesellschaftspolitische Lage Chiles. Es geht um Gewalt, soziale Ungleichheit, die Folgen der Militärdiktatur, Genderfragen, die kulturellen Identitäten Chiles, den Mapuchekonflikt und die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge im Theater und in der gegenwärtigen chilenischen Realität.
Diese neue Realität wird von dem zunächst unter ganz anderen gesellschaftlichen Bedingungen entwickelten Stück „La condición humana“ gespiegelt und alte und neue Gewissheiten werden hinterfragt.
Nachtrag: Die Corona Pandemie hat auch in Chile das öffentliche Leben zum Stillstand gebracht. Nicht nur die Theater, auch die Proteste sind aufgrund des Infektionsrisikos temporär verstummt. Die Corona Krise verschärft weltweit die sozialen Spannungen und das privatisierte Gesundheitssystem sowie die enorme soziale Ungleichheit stellen die chilenische Gesellschaft weiter vor große Herausforderungen.
Julian Keck erhielt seine Ausbildung an der HfS Ernst Busch. Er spielte mehrere Jahre im Ensemble am Staatstheater Nürnberg, zur Zeit ist er freischaffend in Quarantäne in Berlin.
Die Fotos stammen von Anahí Ortuzar, die während der Vorstellungen die Zuschauer*innen portraitierte. Gegen Ende der Vorstellung wurden die Bilder an die Wand projiziert. https://www.instagram.com/anahiortuzarperez/