Chorisches Sprechen, körperliche Verausgabung, Prügelszenen und Gewalt – ein Debüt an einem der großen Häuser Berlins könnte entspannter ablaufen. Wie geht es Ihnen heute nach den Premieren von „Clockwork Orange“ und „Leonce und Lena“?
MAEVE METELKA Es waren lange, intensive Probenwochen. Da eine Ökonomie zu finden war ein irrsinniger Brocken. Jetzt aber, wo die ersten Vorstellungen gespielt sind, kommen Stolz und Erleichterung hinzu über das, was wir geschafft haben. Zu erleben, dass es tatsächlich leichter wird und der Körper sich daran gewöhnt, gibt einem zum ersten Mal die Möglichkeit, die Schauspielerei als Beruf zu sehen.
LAURA TALENTI Ja, an der Hochschule haben wir Proben, Proben, Proben, dann zwei Vorspiele, und dann kommt das nächste Szenenstudium. Sich jetzt freizuspielen macht sehr viel Spaß.
ANNA KÖLLNER Zudem sorgte die gemeinsame und intensive Zeit bei mir für Gelassenheit und Vertrauen.
Ulrich Rasche lässt seinen Ensemblechor beständig auf Drehbühnen oder Fließbändern laufen. Wie erschöpfend ist das?
INGRABAN VON STOLZMANN Schon ganz schön doll! (lacht) Einige, die schon oft mit Rasche gearbeitet haben, sind die ganze Zeit in einer krassen Spannung. Ich war anfangs total unterspannt, aber wenn man dann in diese Spannung reinkommt, merkt man: Okay, wow! Das ist wirklich superanstrengend.
Wie bei einem Marathonlauf: Wie teile ich meine Kräfte ein, um am Ende auch wirklich anzukommen.
INGRABAN Ja, absolut. Wir haben ausgerechnet, dass man während einer Vorstellung ganz easy über 10 000 Schritte kommt.
Sie haben Schritte gezählt?
INGRABAN Ich hatte mein Handy nicht dabei, aber Kollegen sagten, es seien jeden Tag rund zehn Kilometer. Die Bühne dreht sich zudem hauptsächlich in eine Richtung, deswegen ist jetzt mein eines Bein so viel kräftiger als das andere.
Tatsächlich haben Sie sich mit Ulrich Rasches Version von „Leonce und Lena“ und „Clockwork Orange“ in der Inszenierung von Tilo Nest nicht gerade die einfachsten Produktionen ausgesucht. Wobei, ausgesucht – hatten Sie überhaupt eine Wahl?
MAEVE Das ist eine gute Frage. (lacht) Das ist uns auch nicht ganz klar.
Sie fanden sich plötzlich auf den Proben wieder?
LAURA Na ja, es kam die Mitteilung, dass bei den Vorspielen an der Hochschule Leute dabei sein werden, die casten.
INGRABAN Bei uns kam Toni Jessen, der Chorleiter, vorbei und hat mit uns ein Casting gemacht. Zwei hatten dann doch keine Zeit, einer hatte eine etwas andere Auffassung von Theater als Rasche – und irgendwie bin ich dann übrig geblieben. (lacht)
ANNA Du wurdest natürlich ausgewählt.
INGRABAN Ja, natürlich, ausgewählt! Wenn man mich erst einmal laufen sieht!
ANNA Der schafft die zehn Kilometer!
MAEVE Für uns war die Situation insgesamt sehr neu. Wir haben nun schon lange miteinander studiert, und plötzlich hatten wir zu völlig unterschiedlichen Zeiten Proben, zwei aus unserem Jahrgang sind in die Schweiz gegangen. Eine seltsame Zwischenwelt. Wir durften in die Theaterwelt reinschnuppern, hatten aber gleichzeitig noch Sprechen montags in der Hochschule. Wir haben uns nur noch manchmal gesehen. Eine Zeit des Wandels.
Haben Sie einen Praxisschock erlebt?
INGRABAN Voll! Als ich auf die Probe kam, war da die riesigste Probebühne, die ich je gesehen hatte, mit Drehscheibe und allem. Zudem hatte ich noch nie in einem so großen Team gearbeitet, alle waren superprofessionell, aber auch supercool… Ja, es war auf jeden Fall ein Praxisschock.
ANNA Wir haben die erste Zeit in der Hochschule geprobt. Ungewohnt war lediglich, dass da plötzlich zehn Leute zuschauten anstatt nur ein Dozent. Ungewohnt war auch, dass das Stück schon einen Monat zuvor ausverkauft war, obwohl es zu dem Zeitpunkt noch gar kein szenisches Material gab.
Schwer stelle ich mir auch die Integration in einen Chor wie dem von Ulrich Rasche vor.
INGRABAN Das Erstaunliche ist: Wenngleich ich im Chor agiere, hatte ich die Möglichkeit, meinen eigenen Körper in die Inszenierung einzuarbeiten und meine Stimme für mich zu finden – auch wenn man sie wahrscheinlich nur mit dem perfekten Gehör aus dem Chor hätte heraushören können. Jedes Mal hatte ich das Gefühl, ich erschaffe diesen Text für mich, aus mir, in meinem Gang, in meinem Abenteuer auf der Bühne.
Auch „Clockwork Orange“ arbeitet chorisch. Mit Tilo Nest hatten Sie einen Regisseur, der selbst Schauspieler ist. Wirkt sich dieser Aspekt, verglichen mit Regisseur:innen, die nie selbst gespielt haben, in der Arbeit mit ihm aus?
ANNA Ja, er hat uns einfach eine richtig tolle Spielwiese geschaffen. Es gab kein statisches Bühnenbild, sondern wir hatten die Möglichkeit, alles aus dem Spiel heraus zu entwickeln. Daran merkt man, dass er selbst auch spielt.
LAURA Dadurch, dass der Raum leer war und wir hauptsächlich riesige Gummireifen als Spielmaterial hatten, entstand für uns Spieler:innen immer wieder die Frage: Wie geht es weiter? Was ist das nächste Bild? Wie sieht es aus, wenn jemand in einem Turm aus Gummireifen steht und die anderen boxen dagegen? Sieht es so aus, als ob man sich Gewalt auf der Bühne nicht traut? Oder schafft es eine Abstraktion?
„Clockwork Orange“ ist die Geschichte einer gewalttätigen Jugendgang, die auch vor Mord nicht zurückschreckt. Eine der Urfragen des Theaters: Wie zeigt man Gewalt auf der Bühne?
MAEVE Es hat eine Zeit gedauert, bis wir uns mit diesen Reifen angefreundet hatten. Es war ein unfassbarer Gestank, ich weiß nicht, ob die Hochschule immer noch danach stinkt. Das war Wahnsinn, es hat einen erschlagen. Dann nicht zu denken, du Scheißreifen, sondern zu überlegen, okay, wie kann ich jetzt einen Umgang mit dir finden, das war Arbeit. Uns war klar, dass wir die Gewalt nicht explizit auf der Bühne zeigen wollen. Daher kam die Idee mit den bösen Clowns in der Gummizelle, die sich aneinander abreagieren. So konnten wir die Gewalt, die wir nicht zeigen konnten, dann doch zeigen.
LAURA Durch den Film von Stanley Kubrick, der die Gewalt explizit zeigt, hatten wir ein Gegenbild. So etwas lässt sich nicht toppen. Tilo Nest sagte uns auch immer wieder, dass wir uns auf den Roman konzentrieren sollen, wo die Gewalt ja auch im Kopf stattfindet.
Beide Inszenierungen stellen unserer Gesellschaft eine düstere Diagnose: „Clockwork Orange“ thematisiert die Gewalt einer sich selbst überlassenen Jugend, in „Leonce und Lena“ sind es die realen beziehungsweise vermeintlich Erniedrigten, die zerstörerische Gedanken gegenüber dem Staat äußern. Man hat unweigerlich den Sturm auf den Reichstag vor Augen oder auch die Silvesterkrawalle in Neukölln. Teilen Sie die Analysen der Regisseure?
ANNA Ich fand es sehr spannend zu sehen, dass es solche Jugendbanden immer gab und immer noch gibt, nicht bloß in einem Roman, in der Fantasie. Solche Aspekte verschwinden gerne aus dem Blickfeld, aber wenn man genauer hinschaut, sind sie immer noch da.
LAURA Durch „Clockwork Orange“ waren wir gezwungen, auch Zeitungsartikel viel genauer zu lesen. Was ist denn das, Jugendgewalt? Wie und warum manifestiert sie sich? Was ist die Soziologie dahinter? Fragen, die wir auf der Bühne nicht explizit thematisiert haben, die aber für uns wichtig waren, um dem Stoff näherzukommen. In der Inszenierung beziehungsweise in dem Buch versteht man nicht, woher die Gewalt kommt. Das ist das Überfordernde. Ein Spannungsfeld, das sehr anspruchsvoll und dementsprechend sehr reizvoll ist. „Leonce und Lena“ ist eigentlich eine groteske Komödie. Ulrich Rasche indes hat dem Stück jeglichen Humor ausgetrieben.
INGRABAN Tatsächlich denkt man zwangsläufig an Proteste, die demokratiefeindlich sind. Aber wir haben versucht, es zeitlich zu betrachten. Die Inszenierung spielt nicht unbedingt im Heute, eher geht es um die soziale Ungerechtigkeit der Monarchie damals. Das Ende wiederum ist niederschmetternd: Nichts hat einen Sinn, und es bleibt nichts, als dies zu akzeptieren.
Auch diejenigen, die die Welt verändern wollen, können nur beständig gegen die Zustände protestieren.
INGRABAN Am Anfang ist man der Chor, der gegen die Ungerechtigkeit demonstriert, aber je weiter man marschiert und je mehr Anstrengungen es kostet, desto mehr fällt man wieder in das System zurück, weil man machtlos ist, einfach mitgezogen wird, zwangsläufig. Zu- nächst demonstriert das Königshaus mit – vielleicht, weil es sich damit schmücken will, sozial gerecht zu sein. Aber wenn es dann anstrengend wird, fallen sie raus und schauen, ob sie nicht doch lieber nach Ita- lien gehen. Es gibt ein Zitat von Goldoni im Stück: E la fama? E la fame? – Ist es der Ruhm? Ist es der Hunger?
Wie blicken Sie angesichts solcher Gesellschaftsdiagnosen selbst in die Zukunft?
MAEVE Auch wir haben von dieser großen Resignation bereits viel mitbekommen, man verschließt sich vor dem, was draußen stattfindet, durchaus auch hier im Studium. Ich war neulich in der Charité bei einem Vortrag über Klima und Gesundheit. Bei dem Vortrag ging es um ganz kleine Kinder, die Panikattacken bekommen, weil sie die allgemeine Resignation noch nicht verinnerlicht haben. Das fand ich ganz arg. Denn man kann diese Angst ja nicht relativieren – weil sie berechtigt ist. Der Professor gab uns den Rat, uns jemanden im eigenen Umfeld zu suchen, der einflussreicher ist als man selbst, und diese Person dann davon zu überzeugen, zu handeln. Der Professor war so positiv – wie kann jemand, der sich tagtäglich damit beschäftigt, so positiv sein? Und plötzlich war wieder ein Funken Hoffnung da.
LAURA Hoffnung ist ein wichtiger Punkt. Deswegen würde ich mir sehr wünschen, dass es in den Spielplänen der Theater neben dystopischen Inhalten, die einen natürlich sehr wachrütteln, auch Stücke gibt, die den Leuten Mut machen. Das jüngste Buch von Luisa Neubauer heißt „Gegen die Ohnmacht“ und will Hoffnung geben und Menschen in Bewegung bringen. Hoffnung ist nicht einfach da, man muss sie aufbauen und kultivieren.
ANNA Vor allem auch gemeinsam mit Menschen außerhalb der Theaterblase.
INGRABAN Auch jüngeren Menschen, denen wir mittels Recherche eine Stimme geben können. Viel zu oft wird im Theater erzählt, wie Leute denken, sich fühlen, anstatt sie wirklich mal selbst zu fragen.
ANNA Wir haben hier diesen „gesetzlosen“ Raum, in dem wir mit allen gemeinsam neue Ideen sammeln können, neue Welten schaffen, Magie schaffen und daraus Hoffnung und Kraft ent- wickeln können – um dann dem Alltag wieder mit neuen Eindrücken entgegentreten zu können.
ANNA KÖLLNER, geboren 1998, wuchs in Deutschland und der Schweiz auf. 2019 begann sie ihr Schauspielstudium an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Davor sammelte sie erste Theatererfahrungen am Teatro Dalla Piazza in Dielsdorf, Schweiz, am Jungen Schauspielhaus Zürich und am Residenztheater München. Während des Studiums wurde sie Mitglied des FramoriKollektivs, da sie an interdisziplinären und freien Theaterformen interessiert ist.
MAEVE METELKA, 1998 in Wien geboren, stand schon früh in diversen Schulproduktionen und als Leadsänge rin der Schulband auf der Bühne. Seit 2019 studiert sie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, die sie 2024 abschließen wird. Sie arbeitet auch als Filmschauspielerin und Sprecherin.
LAURA TALENTI ist 1996 in Mailand geboren und aufgewachsen. 2019 studierte sie Kulturwissenschaft und Kunstgeschichte an der Humboldt Universität Berlin. Seit 2019 studiert sie Schauspiel an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“. Sie arbeitete unter anderem unter der Regie von Iris Böhm am RenaissanceTheater Berlin sowie mehrfach mit Thomas Heise an der Akademie der Künste. Als Sprecherin ist sie unter anderem für das IberoAmerikanische Institut aktiv und steht regelmäßig für Film und Fernseharbeiten vor der Kamera.
INGRABAN VON STOLZMANN wurde 1996 in Berlin geboren. Mit 15 Jahren spielte er gelegentlich in Inszenierungen des Jungen Deutschen Theaters. Seit Oktober 2019 studiert er Schauspiel an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“. Aktuell ist er in Ulrich Rasches „Leonce und Lena“ am Deutschen Theater Berlin zu sehen.
Infos zu den beiden Inszenierungen und Aufführungsterminen findet ihr hier:
https://www.berliner-ensemble.de/inszenierung/clockwork-orange
https://www.deutschestheater.de/programm/a-z/leonce-und-lena/