Störung im Save Space
Die dreißigjährige Hannah Elischer, die ihr Diplomstück „Sturzflug“ nicht nur selbst spielt, sondern auch geschrieben und inszeniert hat, betritt mit vorsichtigen Schritten und Taschenlampe als Molly Murks die Bühne. Molly stellt ihren Save Space vor: „Hier fühle ich mich frei und unbeschwert.“ Tatsächlich: Luftpolsterfolie bedeckt den gesamten Boden und gibt bei jedem Schritt befriedigende Plop-Geräusche von sich; Leinwände, die von der Decke hängen, wenige Möbelstücke und Mollys schlafanzugsähnliches Outfit wirken gemütlich. Atemübungen machend erklärt sie, sie habe lange an ihren Gefühlen gearbeitet und sei endlich bei sich angekommen. Doch das Mental-Health-Programm wird gestört, als plötzlich eine schrille, knarzige Stimme danach fragt, ob der „Oberotto“ mit seinem „Oberschrottgelaber“ endlich „die Fresse halten kann“. Zum Vorschein kommt eine Taube an Elischers Hand, ihre Finger dienen als Beinchen. Mit hilfreichen Therapietechniken kann das vorlaute Federvieh nichts anfangen („Wenn alle ihre verfickten Atemübungen machen, kriege ich Stress!“). Dennoch, und zur Freude des Publikums, wird es in den nächsten sechzig Minuten nicht von Mollys Seite weichen.
Sturzflug in die Angst
Gemeinsam begeben sie sich auf eine Reise in Mollys Innere, die Bühne wird zu ihrem Unterbewusstsein. Professorinnen (mal in menschlicher, mal in Tauben-Gestalt) erklären als Videoprojektionen an den Leinwänden das Thema des Stücks: Angst. Molly hat schizophrene, depressive, zwanghafte und (diesen Ausdruck lehnt sie selbst ab) hysterische. „Wir können nichts mehr für sie tun!“, resümieren die Fachleute. Also geht’s mit der unsensiblen Taube immer tiefer auf seelische Entdeckungstour. In weiteren Projektionen stellen sich Mollys Lust, Gemütlichkeit, und (kaum noch vorhandene) Selbstsicherheit vor, später werden Sound und Licht anstrengend hell und laut. Nach einer akuten Panik-Episode kauert sich Molly schnell atmend auf dem Boden zusammen und lässt einzelne Luftpolsterblasen platzen. Wenn dabei die Taube makaber feststellt: „Es ist echt schwer, sich um einen Menschen zu kümmern, der sich wie ein Möbelstück verhält“, überlegt man unweigerlich selbst, wie man mit Menschen umgeht, die Hilfe brauchen.
Das Prinzip Elischers Abschlussarbeit geht hervorragend auf. Die Leichtigkeit in ihrem puren, selbstironischen Spiel und die Komik ihrer rotzfrechen Begleitung in Vogelform funktionieren als Türöffner für die Verhandlung intimer, bedrohlicher Themen. Nichts ist dabei zu wirr oder unnötig überspitzt. Komische Momente sind genauso geschickt aufgebaut wie beklemmende. Ihr Abend überrascht bis zum Schluss. Ohne Taube, die ist inzwischen abgehauen, dafür mit XXL-Zahnbürste, steht sie alleine auf der Bühne und fürchtet sich vor ihrem bevorstehenden Zahnarzttermin: „Zahnprophylaxe? Sowas Ekliges! Mein ganzer Tag ist im Arsch deswegen!“.
Ein Fest für Romanistik-Nerds
Dem zweiten Stück des Abend, „Was ist das zwischen uns, Louïze“, widmet Leah Wewoda der im Titel genannten französischen Dichterin Louïze Labé. Während der Renaissance gelebt und geschrieben, danach vergessen und im 18. Jahrhundert wiederentdeckt, gilt sie heute nicht nur als erste weibliche Liebespoetin, sondern vielleicht sogar als erste Feministin, wie sie zu Beginn des Stücks vorgestellt wird. Die 1998 geborene Wewoda spielt und musiziert zusammen mit der französischen Sprecherin Agnès Guipont und beide haben ein klares Ziel: Labé und ihr Werk vom Schmutz männlicher Übersetzungen, Aneignungen und Mythen befreien. Lange genug haben Männer Frauen von der „Kunst und Lehre“ abgehalten. Schluss damit. Was folgt, ist ein Marathon durch sprach- und literaturwissenschaftliche Exkurse, der durch performative, klangliche Episoden gerahmt und getragen wird. Es wird regelmäßig auf Projektionen eines Overhead-Projektors gemalt, am Klavier gespielt und gesungen, an einer Loop-Maschine experimentiert oder Klänge mit dem eigenen Körper produziert. Das macht Spaß und unterhält und ist dringend nötig.
Später wird das Publikum über die Übersetzungsdilemmas von Labés Texten informiert: Penibel wird aufgelistet, welche französischen Wörter sinnverzerrend (natürlich durch Männer, Rilke zum Beispiel) ins Deutsche übertragen worden sind, dass Lyrikübersetzung einem „Kreuzworträtsel ohne Lösungswort“ gleiche. Unterstrichen wird das Vokabelchaos durch große Pappwortstreifen, die auf dem Boden angeordnet werden. Linguistik- und Romanistik-Nerds kommen dabei sicherlich auf ihre Kosten, insgesamt wirken diese und folgende philologischen Ausschweifungen auf Dauer recht trocken und zu theoretisch. Da helfen leider auch große „amour“- und „folie-“ Masken aus Pappe nicht, hinter denen sich Wewoda und Guipont verbergen, um ein Streitgespräch zwischen Liebe und Wahnsinn zu verkörpern.
Beeindruckend ist die offenbar sehr detaillierte, fundierte Recherche über Louïze Labés Werk und ihre Rezeption in der Literaturwissenschaft, ohne die die vielen Gedankenwindungen des Stücks wohl kaum möglich gewesen wären. Schade, dass die offenbar große Leidenschaft der beiden Spielerinnen für Labés Werk einfach nicht aufs Publikum überschwappt. Zu konstruiert, zu technisch wirken viele Ideen dieser Performance.
Queering ghostwriting in der Renaisannce
Für viel Heiterkeit und Lachen sorgt schließlich das „literarische Tablett“: Sehr gelungen wird die bekannte Literatur-Sendung parodiert, indem ein Tablett voller Bärte und Augenbrauen in die Mitte eines Tisches gestellt wird, um den Wewoda und Guipont breitbeinig sitzen. Immer schneller kleben sie sich Bart für Bart, Braue für Braue an. Grunzend und selbstgefällig schwafeln sie dabei über die Verschwörung, Labé habe ihre Liebesgedichte von Männern schreiben lassen, die, weil sie darin andere Männer angepriesen haben, „queering ghostwriting in der Renaissance“ betrieben haben. Tja, das passiert wohl, wenn Männer zulange ein literarisches Feld nur für sich beanspruchen.
Wewoda gelingt es, die Kritik am Patriachat in der Literaturgeschichte anhand des Beispiels Labé nachollziehbar zu transportieren. Vor allem die musikalischen Einlagen beider Darstellerinnen helfen, sich dabei nicht allzu sehr wie einem Lyrik-Seminar zu fühlen.